Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Orchideen, auf der ein Dutzend Hühner gackern. Das gemütliche Haus aus Naturmaterialien steht einsam in der Landschaft – wie eine steingewordene Arche Noah in einem Meer von Grün. Am Horizont steigen sanfte Hügel auf, umrahmt von Schäfchenwolken. Die nächste Ansammlung von Menschen ist eine kleine Künstlerkolonie, sie hat sich zwanzig Autominuten von hier niedergelassen, Bildhauer, Maler, Musiker, ein Hauch von Hippie-Atmosphäre. Und noch einmal 15 Kilometer weiter liegt Petrópolis, die ehemalige Kaiserstadt. Gut erhaltene prunkvolle Villen zeugen von dem deutschen Erbe. Im Museu Imperial, untergebracht in der Sommerresidenz der früheren Herrscherfamilie, lassen sich noch Festgewänder und alte Kutschen sowie die goldene, mit 639 Brillanten und 77 Perlen bestickte Krone des Kaisers aus dem Jahr 1841 bewundern. Etwa 900 Meter über der Küste sind wir hier, zweieinhalb mühselige Stunden haben wir uns mit dem Wagen über Serpentinenstraßen von Rio de Janeiro hier heraufgequält. Es hat sich, schon rein optisch, gelohnt: Die kühle Brise, das coole Ambiente sind ein willkommener Kontrast zur hektischen Millionenmetropole.
Der Hausherr über dieses Paradies, den so viele für einen Heiligen halten, zeigt stolz sein Reich. Liebevoll fährt er mit seinen Fingern die Buchrücken entlang, vollgestopft sind die Regale bis zur Decke, und über neunzig Werke tragen seinen Namen. Außerdem ist hier so ziemlich alles vertreten, was in der Geschichte der Philosophie, in der Historie der Religionen eine Rolle gespielt hat. An den Wänden konkurrieren ein Stich aus der Gutenberg-Bibel und ein Dutzend figürliche Abbildungen des heiligen Franziskus mit indianischer Kunst und der Urkunde zum Alternativen Nobelpreis 2001 um Aufmerksamkeit. Ein Holzkreuz, auf das unser Gastgeber besonders stolz hindeutet, zeigt eine Frau am Kreuz mit großem Busen und sichtbarer Vagina, das Geschenk eines einheimischen Künstlers. Es ist eine Provokation. Aber Provokationen liebt er ja, dieser Leonardo Boff, Alptraum des Vatikans, berühmtester und schärfster der papstkritischen Befreiungstheologen, Gegenspieler und lange Zeit auch persönlicher Freund von Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI., dem Stellvertreter Jesu auf Erden von April 2005 bis Ende Februar 2013. An ihm macht Boff fest, warum die katholische Kirche in Brasilien seiner Meinung nach lange Zeit zum Abstieg verdammt war. Und welche großen Hoffnungen seiner Meinung nach auf Franziskus ruhen, dem Neuen im Vatikan, dem ersten Lateinamerikaner. Boff kennt ihn so gut und so persönlich wie dessen beide Vorgänger auf dem Heiligen Stuhl. Ein einmaliger Zeitzeuge.
In Brasilien gibt es immer noch mehr Menschen, die sich zum Katholizismus bekennen, als in irgendeinem anderen Staat der Welt: um die 130 Millionen, das sind knapp zwei Drittel der Bevölkerung. Aber es waren schon einmal wesentlich mehr: im Jahr 1950 über 93 Prozent, im Jahr 1980 über 88 Prozent, im Jahr 2000 noch 74 Prozent. Im Großraum Rio mochten sich jetzt sogar nur noch 49,8 Prozent der Einwohner zur römischen Amtskirche zählen lassen – mehr als ein Trend, ein Niedergang, denn im gleichen Zeitraum legten andere Glaubensgemeinschaften enorm zu. »Warum das so ist, lässt sich leicht erklären«, sagt Leonardo Boff, und seine sonst so sanfte Stimme wird rau, er beugt sich, Zornesfalten auf der Stirn, nach vorn. »Ich wollte Benedikt immer zurufen: ›Begreifen Sie sich nicht als doktrinärer Lehrer, sondern endlich als Hirte, als Mutmacher der Gläubigen! Hören Sie auf, unter ihnen Angst zu verbreiten, stoppen Sie Ihre fundamentalistische Rigorosität!‹ Aber es nützte nichts: Der Papst wurde zum Würgeengel der Kirche.«
Was genau werfen Sie ihm vor?
»Er verbreitete keine Aufbruchstimmung, er war ein Bremser, der nur Disziplin einfordert, Gehorsam und nichts als Gehorsam. Seine primäre Sorge galt dem Wunsch, den Machtapparat des Vatikan zu festigen. Fast melancholisch wiederholte er auf seinen Reisen die alte Leier, predigte sein Nein zu Verhütungsmitteln, sein Nein zu Frauen im Priesteramt, sein Nein zur Homosexualität. An den wahren theologischen Problemen ging er immer vorbei. Die zentrale Frage lautet doch: Wie kann man an einen Gott glauben, der in einer Welt voller Elend ein gütiger Vater sein soll – und was lehrt uns Jesus? Sollen wir die Verhältnisse einfach nur ertragen oder sie positiv verändern?«
Und wie lautet Ihre Antwort?
»Schauen Sie, ich lebe in Lateinamerika, in Brasilien,
Weitere Kostenlose Bücher