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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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›Bußschweigen‹ auferlegt und der Lehrstuhl für Theologie entzogen. Ich habe das akzeptiert, weil ich weiter helfen wollte, die Weltkirche von innen heraus zu reformieren, den Glauben in Brasilien voranzubringen. Aber ich habe die Vorschriften flexibel ausgelegt, und selten so viel kommuniziert wie gerade in diesem Jahr.«
    Das Rede- und Lehrverbot des Vatikan machte Boff weltberühmt und sicherte seinen Thesen zusätzliche Aufmerksamkeit. Die Auseinandersetzungen mit Rom verschärften sich. Der Renegat wurde mehrfach gemaßregelt, seine Bücher sollten vorzensiert werden. Ihm wurde auf persönliche Intervention von Kardinal Ratzinger die Leitung der katholischen Zeitung Revista Vozes entzogen, er musste dann auch das Theologieseminar von Petrópolis verlassen. Der Kardinalsstaatssekretär des Vatikans, Angelo Sodano, verglich Boff gar mit Judas, dem Verräter. »Das war der Tiefpunkt«, sagt Boff. »1992 habe ich die Konsequenzen gezogen. Ich trat aus dem Franziskaner-Orden aus und legte mein Priesteramt nieder, versetzte mich wieder in den Laienstand. Aber natürlich blieb ich meinen Themen treu. Ich habe die Schützengraben gewechselt, nicht die Schlacht.«
    Boff blieb weltweit ein gesuchter Lehrer, Berater und Redner. Gastprofessuren führten ihn nach Lissabon, Salamanca, Harvard, Basel und Heidelberg. Ehrentitel und Auszeichnungen häuften sich. Sein Ausscheiden aus den kirchlichen Ämtern aber setzte fort, was schon lange begonnen hatte: der schleichende Niedergang der Befreiungstheologie in Brasilien. Hélder Câmara war nach seinem altersbedingten Ausscheiden aus dem Amt des Erzbischofs durch einen Vertreter der Erzkonservativen ersetzt worden; 1999 starb Câmara in Recife. »Während seiner Zeit als Leiter der Glaubenskongregation hat Ratzinger mehr als hundert Theologen verurteilt. Und als Papst wurde die Bewegung für ihn erst recht eine Obsession – er hat fast alle Bastionen der Progressiven geschleift und nur Konservative seiner Denkschule in wichtigen Positionen verankert. Und trotzdem haben wir eher gewonnen als verloren«, sagt Boff trotzig und ballt die Hand unbewusst zur Faust. Wie das? Macht er sich da nicht etwas vor? Er schüttelt den Kopf. »Nein, nein, die Befreiungstheologie hat wirklich tief in die Politik und das Leben der Menschen in unserem Land hineingewirkt. 2003 ist der Gewerkschaftsführer Lula da Silva Präsident geworden, 2011 ist die Ex-Guerillera Dilma Rousseff seine Nachfolgerin geworden. Beide sind von unserer Art des christlichen Denkens wesentlich beeinflusst worden.« Und dann erzählt Boff, dass er als eine Art inoffizieller Berater gute Kontakte zur Regierung pflege, dass er gerade zurück sei von einem langen Ministergespräch in Brasília.
    Aber war es nicht eher so, dass er sich der sozialdemokratischen Politik angenähert hat, als dass sich die sozialdemokratischen Politiker ihm annäherten?
    Ja, es stimme, er habe dazulernen müssen, sagt der Theologe, nun ganz nachdenklich. Früher sei für ihn der Kapitalismus immer das System des Bösen schlechthin gewesen, gut nur zur Akkumulation des Superreichtums, zur Verarmung der Massen. Lula und Rousseff hätten ihm nun gezeigt, dass man auch mit einer industriefreundlichen Politik und entsprechenden progressiven Steuern eindrucksvolle Sozialprogramme finanzieren könne – »Der sozialdemokratische Weg ist der richtige.« Aber Boff meint, es sei noch viel zu tun. Die Befriedung der Favelas stehe am Anfang, die Arm-Reich-Schere klaffe immer noch viel zu weit auseinander. »Und eines hat sich in Brasilien überhaupt nicht verbessert: der Raubbau an der Natur. Für mich ist die Ökologie zum Hauptthema geworden. Wir brauchen eine neue Ethik, die nicht im Esoterischen steckenbleibt, die von einem religiösen Respekt gegenüber der Schöpfung geleitet ist. Eine Ethik, die den verzweifelten Schrei der Erde hört.«
    Leonardo Boff weiß, dass das pathetisch klingt, aber anders kann er es einfach nicht formulieren. Er braucht jetzt frische Luft, die Natur. Er reißt die Schiebetür zum Garten auf, erobert sich mit großen Schritten sein Paradies. Die restlichen Fragen möchte er im Freien beantworten, auf der Brücke am Teich. Jeden Religionsführer will Boff an seinem sozialen und vor allem an seinem ökologischen Engagement messen. Ohne diese Voraussetzungen zähle Glauben wenig. Boff trägt diese Gedanken nicht nur an die große Politik heran, sondern predigt sie auch in Dutzenden christlichen Basisgemeinden, in denen er

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