Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
unterwegs ist; auch in den Slums unter den Ärmsten der Armen, für die Umweltbewusstsein nicht unbedingt erste Priorität genießt. Er hat öfter mit dem Dalai Lama über diese Probleme diskutiert und war sehr angetan von dessen ganzheitlichem Ansatz, dessen Engagement: »Der Dalai Lama ist für mich heute der Einzige, der die Anrede ›Heiligkeit‹ verdient. Aber der Katholizismus bleibt meine spirituelle Heimat, auch wenn ich eine ganz andere Auffassung von der Gestalt der Kirche habe wie Ratzinger. ›In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen‹, heißt es bei Johannes – und Krach zwischen den Mietern im Haus des Herrn ist nicht nur bei Katholiken doch ziemlich normal. Benedikt XVI . betrachtete die Kirche wie ein Schiff, das fest verankert im Hafen liegt, das kontrolliert werden muss. Er war besessen von Kontinuität und suchte nicht die Wahrheit, sondern nur die Sicherheit. Für mich ist die Kirche ein Schiff, das gebaut ist, um es draußen auf dem Meer mit den Wellen aufzunehmen und sich, wenn nötig, einen neuen Kurs zu suchen.«
Aus der Küche ein Ruf: »Leonardo, wir müssten dann mal, die Kinder kommen bald«, meldet sich seine Frau, und wenn Marcia zur Ordnung ruft, gehorcht der Mann, »das ist etwas ganz anderes, als wenn der Papst zur Ordnung ruft«, sagt er lachend. Der Nachwuchs hat sich zum Besuch angesagt. Fünf Kinder hat die geschiedene Menschenrechtlerin, Theologin und Umweltaktivistin mit in ihre Ehe gebracht: Der Ex-Priester ist den Weg vom Zölibat zur Großfamilie ohne Umwege gegangen. Seit er nun weit über siebzig ist, sind auch Enkel hinzugekommen; »eine ganze Bande«. Als er uns zum Auto begleitet, sagt Boff noch, er sehe das rasche Anwachsen der protestantischen Kirchen, die Rückbesinnung der Urbevölkerung auf afrikanische Religionen in Brasilien durchaus mit Sympathie. Brasiliens religiöse Zukunft liege im Synkretismus, der Vermischung von Glaubensrichtungen und Philosophien, aus dem etwas Neues entstehe. »Konkurrenz belebt das Geschäft, es ist gut, dass die römisch-katholische Kirche keinen Absolutheitsanspruch, kein Monopol mehr hat.«
Drei Monate später, März 2013. Ein neues Gespräch, aus gegebenem Anlass: den Umwälzungen im Vatikan. Auch Boff hat Respekt abgenötigt, dass sein Alter Ego Benedikt XVI . das Amt aus gesundheitlichen Gründen freiwillig aufgab – ein Reformer wenigstens in Sachen Rücktritt. »Ich hatte mir erhofft, dass der neue Papst den Namen Franziskus annähme – und Freunden gegenüber auch vorausgesagt, dass es so kommen würde. Ich habe große Genugtuung empfunden, denn das ist programmatisch: Franz von Assisi steht für eine Kirche der Armen und Unterdrückten, für Umweltbewusstsein und gegen Prunksucht«, sagt Boff. »Besonders freut mich natürlich, dass der Papst aus Lateinamerika kommt, der Schwerpunkt des Christentums hat sich ja längst Richtung Dritte Welt verschoben. Dem ist nun Rechnung getragen worden. Und ich bin froh, dass es nicht der brasilianische Favorit aus São Paulo geworden ist. Denn Kardinal Odilo Scherer ist ein Erzkonservativer, ein Mann der Kurie.«
Und Boff hat Hinweise darauf, dass der neue Papst in Wirklichkeit liberaler denkt? »Vor ein paar Monaten hat er ausdrücklich zugestimmt, dass ein gleichgeschlechtliches Paar ein Kind adoptiert. Er pflegt Kontakte zu Priestern, die von der Amtskirche verstoßen wurden, weil sie geheiratet hatten. Und er hat sich nie von seiner Linie abbringen lassen, die da hieß: Wir müssen an der Seite der Armen sein. Er ist in die Slums gegangen, er hat soziale Ungerechtigkeiten angeprangert – und stets sehr bescheiden gelebt.« Er habe das selbst erfahren, erzählt Boff, als er Bergoglio in Argentinien kennenlernte. Boff fand ihn auf Anhieb sympathisch, weil Bergoglio ihm in wesentlichen Bereichen der Befreiungstheologie nahestand, wenngleich er sie nie offen unterstützte, »das war nicht der argentinische Weg«.
Brasiliens fortschrittliche Priester haben sich mit den Militärdiktatoren angelegt, Bergoglio soll mit ihnen gekungelt haben. Vorwürfe stehen im Raum, er habe zwei linke Jesuitenpriester vielleicht sogar an die Machthaber verraten. »Darauf gibt es keine Hinweise. Ich selbst habe Orlando Yorio kennengelernt, einen der beiden, die er angeblich ans Messer lieferte. Yorio hat so etwas mir gegenüber nie geäußert.« Boff gibt sich optimistisch, dass Franziskus »die richtigen Schritte gehen wird«: weg von der korrupten Kurie zur Universalkirche. Und zu neuen, zentralen
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