Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Themen wie dem Gefälle zwischen Arm und Reich, der Gerechtigkeitslücke, der Umweltzerstörung. »Wir haben uns so weit von den wirklichen Problemen der Menschen entfernt. Franziskus kann diese Verkrustung aufbrechen. Viele werden sich noch wundern.«
Dass Brasilien gläubig ist, sticht jedem ins Auge, der durchs Land reist. Ob in Petrópolis, Porto Alegre, Rio oder Recife, in den Weiten des Mato Grosso oder in den Dörfern am Amazonas – überall sieht man weißgetünchte katholische Kirchen. »Jesus« steht auf den Kleintransportern, und oft haben Volkskünstler sein vermutetes Konterfei danebengepinselt. Kaum ein Taxifahrer kommt ohne Marienbildchen aus, die meisten Bars haben in kleinen Nischen oberhalb der Schnapsflaschen Statuen von Schutzpatronen wie der Heiligen Barbara oder dem Heiligen Georg aufgestellt. Selbst in Nachtclubs hängen Kreuze an der Wand. Und die brasilianische Alltagssprache ist durchsetzt mit Ausdrücken aus dem Bereich des christlichen Glaubens: Se Deus quiser lautet die gängige Antwort auf den Abschiedsgruß des Freundes, »So Gott will.« Aber besonders viel scheint das für das tägliche Leben nicht zu bedeuten, die Heilige Dreifaltigkeit kratzt kaum mehr als die Oberfläche. Junge Leute spotten über die Sexualmoral des Vatikans, ältere ignorieren sie einfach. Auch sonntags bleiben viele Kirchen leer, die Frühschoppen der Restaurants an den Marktplätzen sind weitaus besser besucht. Und selbst in ihren Glanzzeiten hat die römisch-katholische Kirche in Brasilien nicht annähernd genug Priester hervorgebracht, um die spirituelle Betreuung der Gläubigen zu gewährleisten. Heute stehen den etwa 130 Millionen Gläubigen in den Weiten des Landes rund 18000 Priester zur Verfügung, Tendenz fallend; in Deutschland, mit einer Fläche, die kaum mehr als ein Dreißigstel Brasiliens umfasst und einer Anzahl von Getauften, die weniger als ein Drittel ausmacht, sind es etwa 15000. Allenfalls über die weitverbreiteten konfessionellen Schulen und Universitäten hat der Vatikan noch Einfluss in Brasilien, doch da wenige dieser Einrichtungen zu den besten im Land gehören, schwindet auch der.
Ein erstaunlicher Niedergang, wenn man bedenkt, dass das Land nach seiner »Entdeckung« durch Pedro Alvares Cabral im Jahr 1500 von den Europäern konsequent katholisiert wurde, die Missionierung der Naturvölker als Voraussetzung für die legitime Herrschaft des portugiesischen Königs galt: Vatikan und Krone in Symbiose. Erst seit 1988 gewährt Brasilien uneingeschränkt Religionsfreiheit – und die römisch-katholische Kirche ist heute meilenweit entfernt von ihrer einstigen Stellung als Staatskirche während der Kolonialzeit oder im Kaiserreich des 19. Jahrhunderts.
Was nicht heißt, es gäbe keine spirituelle Sehnsucht; was nicht heißt, spektakuläre Messen hätten keinen Zulauf; was nicht heißt, religiöse Feste erreichten keine rekordverdächtigen Zuschauermassen. Papst Benedikt XVI . wurde bei seinem Besuch in Brasilien im Mai 2007 begeistert umjubelt. Aber er provozierte auch Kritik, indem er behauptete, die katholische Kirche habe den Indios »den Glauben nicht aufgezwungen«, vielmehr hätten die Naturvölker »die Ankunft der Priester herbeigesehnt«. Der Papst verstehe die Realität der Ureinwohner nicht, klagten viele, die kircheninterne brasilianische Indianervertretung sprach von einer »falschen, nicht zu verteidigenden« Erklärung. Der Kölner Historiker Hans-Jürgen Prien, Spezialist für Kirchengeschichte, nannte die Papst-Worte eine »unglaubliche Geschichtsklitterung«, andere verlangten gar eine offizielle Entschuldigung Benedikts. Die blieb aus. Sein Nachfolger Franziskus präsentierte sich da Ende Juli 2013 bei seinem Besuch weit volksnäher.
Kenner Brasiliens sahen weniger religiöse Inbrunst denn die Lust am Gemeinschaftsgefühl, die Hinwendung zu einem Spektakel. Ein Pop-Phänomen. Und so präsentiert sich auch das wohl größte katholische Fest Lateinamerikas, die alljährlich im Oktober stattfindende Prozession »Círio de Nossa Senhora de Nazaré« in Belém, einer Stadt am südlichen Arm des mächtigen Amazonas, 140 Kilometer von der Atlantikküste entfernt. Hier atmet die Geschichte Religion und die Religion Geschichte, oder jedenfalls behaupten es die cleveren Stadt-Vermarkter: Belém ist der portugiesische Name von Bethlehem, der Geburtsstadt Christi, so getauft von strenggläubigen portugiesischen Eroberern. Belege für die Gottesfürchtigkeit ihrer Einwohner
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