Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
finden sich auf Schritt und Tritt: die schöne Igreja das Mercês, die eigenwillige Igreja do Carmo, die mächtige Basilika. Belém war lange Zeit auch eine reiche Stadt, strategisch gut platziert nahe wichtigen Schifffahrtsrouten in die Alte Welt, ideal für die Überwachung des Amazonas-Deltas und des brasilianischen Hinterlands.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Stadt über hunderttausend Einwohner und wurde zum Hauptausfuhrhafen für Kautschuk; die Erlöse aus dem Handel mit Gummi machten zwischenzeitlich mehr als ein Drittel der nationalen Gesamteinnahmen aus. Die Kolonialisten schufen sich und ihrem christlichen Schöpfer eindrucksvolle Denkmäler. Sie blieben bestehen, auch als der Kautschukhandel seinen Niedergang erlebte, als die Briten in ihren fernöstlichen Kolonien wie Malaya die brasilianische Produktion mengenmäßig überholten und preislich unterboten. Belém umgibt auch heute noch ein Hauch vom Glanz der Belle Epoque und des Barock, und der Boom des neuen Brasilien ging trotz ihrer heute als peripher empfundenen Lage nicht ganz an der Eineinhalbmillionenstadt vorbei. Die Museen, die Parkanlagen, der Fisch- und Gemüsemarkt Ver-o-Peso (»Schau auf das Gewicht«), die exotischen kulinarischen Spezialitäten wie Ente à Tucupí oder Tacacá, Brühe mit eingesalzenen Garnelen auf Maniok, locken viele Gäste an. Aber es ist die Círio-Prozession, die Belém auf die Landkarte des nationalen und internationalen Tourismus setzt. Dabei gehen krude Geschäftemacherei, bunte Folklore und religiöse Ursprünge längst ineinander über.
Die Verehrung der Jungfrau von Nazareth stammt aus den Anfängen des portugiesischen Christentums. Der einflussreiche Adlige Fuas Roupinho behauptete, mithilfe der Heiligen vom sicheren Tod gerettet worden zu sein – sein Pferd war durchgegangen und ritt in vollem Galopp auf einen Abgrund zu, als er den Namen der Heiligen Jungfrau ausrief und es im letzten Moment stoppte. Jesuiten brachten die Legende mit nach Brasilien. Ein einfacher Mann namens Placido soll dann im Jahr 1700 an einer Amazonas-Nebenflussmündung nahe Belém ein Bildnis der Heiligen gefunden haben. Viele in der Region hörten von dem Wunder und kamen, die Ikone zu bestaunen. Vor allem die Fischer machten sie zu ihrer Patronin, am Entdeckungsort bauten sie eine Kapelle.
Im Jahr 1793 beschlossen die Gläubigen, aus Dankbarkeit für den Schutz durch die Jungfrau von Nazareth eine prunkvolle jährliche Prozession abzuhalten, das Bild wie eine Monstranz durch den Ort zu tragen. Das führte nach Ansicht der Inbrünstigen zu einem neuen Mirakulum: Alle Passagiere eines portugiesischen Schiffes, das vor Belém unterging, konnten aus den Fluten gerettet werden – und zwar nicht von irgendeinem Boot, sondern von dem, welches das Bild der Heiligen zuvor zur Restauration nach Lissabon transportiert hatte. Das brachte der Heiligen noch mehr Verehrer. Und so wurde fast jedes Jahr der Umzug prächtiger, kamen mehr Zuschauer aus dem In- und Ausland. Über die Jahrzehnte wurde der Círio zum lukrativen Magneten. Der spirituelle Ausgangspunkt trat dabei in den Hintergrund.
Die Feierlichkeiten für das Volksfest beginnen schon Wochen vor dem eigentlichen Umzug im September. Von überall her strömen die Pilger in die Amazonas-Metropole, per Schiff den Amazonas hinauf, Tausende Kilometer über die holprigen Straßen per Bus, die Luxustouristen mit Charterflügen. Manche bringen Geflügel, Maniokmehl und Wildgrasblätter mit, die Zutaten für das »Göttliche Bankett«, das sieben Tage vor der Zeremonie veranstaltet werden muss; die meisten aber unterstützen mit ihrem Einkauf die Bauern aus Beléms Vororten. Überall in den Geschäften der Innenstadt werden Rosenkränze feilgeboten, nötig für das gemeinschaftliche Gebet zum Ruhm der Heiligen. Kinder erhalten kleine bemalte Tierfiguren aus dem Holz der lokalen Buriti-Palme, ein weiterer wichtiger Geschäftszweig für die Handwerker und Händler von Belém.
Am zweiten Oktobersonntag ist es dann so weit: In der ersten Dämmerung des Morgens künden Böllerschüsse von dem großen Ereignis. Die engen Plätze um die Kirchen sind schwarz von Menschen, wie eine Riesenwelle wogt es in den Straßen. Und alle drängen, schubsen, schieben. Gefährlich sieht das aus, aber aufhalten oder steuern lässt sich die Masse kaum mehr, alle wollen nach vorn, um dabei zu sein, wenn der Schrein mit dem Heiligenbildnis vorbeikommt. An der Kathedrale geht es los, dann folgen sechs
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