Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Kilometer Via Sacra bis zur Basilika. Jedes Haus auf dem Weg ist blumengeschmückt, die Balkone wirken lebensgefährlich überbesetzt, Jugendliche haben sich auf die Äste der Mangobäume geschwungen. Die Gläubigen singen die eigens im 18. Jahrhundert für den Anlass komponierte Hymne »Ihr seid so schön wie eine Lilie«. Neben dem heiligen Schrein werden auch noch andere angebliche Originalkultgegenstände durch die Straßen geführt: das damalige Boot, in dem die Schiffbrüchigen gerettet wurden, ein mittelalterlicher »Gabenwagen«, gefüllt mit kulinarischen Opferpräsenten der Pilger. Die christlichen Lieder werden immer wieder durch Feuerwerkskörper übertönt und mit pseudoreligiösen Schlagern aus ohrenbetäubend lauten, klangverzerrenden Boxen verstärkt.
Die Stimmung schlägt um in Hysterie, wenn die göttliche Sänfte dann wirklich vorbeikommt. Jeder versucht, sie zu berühren. Oder wenigstens das 400 Meter lange Seil, an dem sie befestigt ist, für einen Moment zu ergreifen. Pegar a corda – wer es schafft, bekommt dafür nach dem in Belém herrschenden (Aber-)Glauben seine Sünden vergeben. Da diese Hatz auf einen Strick offensichtlich mehr Spaß macht als das konventionelle Beichten, kommt es unter den Pilgern regelmäßig zu Verletzungen, es haben sich auch schon tödliche Unfälle ereignet. Im Oktober 2012 mussten Dutzende in die Krankenhäuser eingeliefert werden, und das war noch ein relativ gutes Jahr. Bei sechs Stunden Prozession und an die zwei Millionen aufgewühlter Teilnehmer kein Wunder. Und da sind die abendlichen Schlägereien bei den diversen Umtrunken der Pilger noch nicht mitberücksichtigt.
Ausgerechnet Belém, diese Bastion des Katholizismus und seines Jubelfestes, wurde zum Einfallstor für die heute so erfolgreiche religiöse Konkurrenz. Die beiden Schweden Gunnar Vingren und Daniel Berg hatten sich Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA von einer neuen evangelikalen Glaubensrichtung inspirieren lassen, der Pfingstbewegung. Dabei spielt die »Ausgießung« des Heiligen Geistes auf die Menschheit, wie sie im biblischen Pfingstfest gefeiert wird und die besondere Geistesgaben wie Heilungen und Prophezeiungen ermöglicht, eine besondere Rolle. Der Kampf zwischen Gott und Teufel steht im Zentrum der Theologie. Jeder Einzelne hat sich dem Kampf gegen die Dämonen zu stellen. Um in der Gemeinschaft akzeptiert zu werden, muss sich der Mensch bekehren lassen und einer besonderen »Geistestaufe« unterziehen. Diese Erfahrung wird mit Ekstase zelebriert, wie überhaupt die Messen der Pfingstler sich durch lebhafte Aktionen, Sprechgesänge und feurige Priesterreden von den gängigen christlichen Gottesdiensten unterscheiden. Die Pfingstkirchen verlangen von ihren Gemeinden Bibelkenntnis und eine hohe Gesinnungs- und Verantwortungsethik, das Abweichen von gesellschaftlichen Normen wie Homosexualität gilt als verpönt. Der Gospel of Prosperity , der »Wohlstands-Gospel«, stellt den individuellen ökonomischen Erfolg in einen kausalen Zusammenhang mit der religiösen Lebensführung.
Noch 1930 zählte die Gemeinde der Pfingstler nicht mehr als einige Zehntausend Gläubige. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren aber wuchs die Bewegung sprunghaft. Das lag daran, dass brasilianische Gläubige nun die ersten authentischen Pfingstkirchen des Landes gründeten, von Einheimischen für Einheimische. Charismatische Prediger stellten in ihren feurigen Ansprachen Arbeitslosigkeit, Ehestreit, Alkohol und Tabak als Werk des Satans dar, mit Selbstdisziplin könnten die Übel dieser Welt überwunden werden.
Die konkreten Heilsversprechen wurden bald nach der Gründung der Pfingstler-Gemeinde an klare Bedingungen geknüpft – jedes Schäfchen hatte der Kirche ein Zehntel seines Gehalts abzugeben. Do ut des : Der Mensch tritt in eine Art Vertragsverhältnis mit Gott, der nicht erst im Jenseits, sondern schon auf Erden »liefert«, ein Leben in Wohlstand nämlich, weltliche Erlösung gegen obligatorische Spenden. Viele führte das in psychische und finanzielle Abhängigkeit. Doch andere schafften so auch den sozialen Aufstieg – die Pfingstkirchen wurden zu einer der treibenden Kräfte für einen neuen Mittelstand. Und nebenbei machten sie die führenden Geistlichen zu sehr reichen Männern. Zu Machtfaktoren im Land. Am spektakulärsten ist der Aufstieg einem ehemaligen Lotterieverkäufer und kleinen Staatsangestellten aus Rio de Janeiro gelungen, einem Selfmademan, den viele, auch dunkle Geheimnisse
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