Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Lagerhalle entstanden war, im tristgrauen Arbeiterviertel Santo Amaro am Rande der Innenstadt von São Paulo. Ein riesiges Areal, bis auf den letzten Platz gefüllt, wohl mehr als 10000 gespannt wartende Gläubige. Dann kam er. Ein baumlanger Kerl, jugendlich kurzer Haarschnitt, gewinnendes Lächeln. Eine elegante Erscheinung. Und Spot an. Alle Scheinwerfer richteten sich auf den Mann an der Bühnenrampe: rote Soutane, auf die ein goldenes Kreuz gestickt ist, blütenweiße Ärmel. Mit seinen weit ausladenden Handbewegungen erinnerte mich Padre Marcelo Rossi ein wenig an die Christusstatue auf dem Corcovado, das Wahrzeichen von Rio de Janeiro. Ein wahrer Stellvertreter.
Als er dann mit seiner sanften, sonoren Stimme zu einer der selbst geschriebenen Schmuserock-Lobeshymnen auf den Herrn ansetzte, waren alle hingerissen: alte, knorrige Männer mit schwieligen Arbeiterhänden und junge, sorgfältig geschminkte Damen in engen Jeans und knappen Tops. Offensichtlich sehr Wohlhabende mit dicken Goldreifen ums Handgelenk und sehr Bedürftige, barfüßig und in ausgebleichten Baumwollleibchen. Sie fassten sich an den Händen oder falteten sie zum inbrünstigen Gebet, wischten sich Tränen der Rührung weg, fielen sich in die Arme, stimmten ein in die schlichten Texte und gängigen Melodien. »Sei das Zentrum in meinem Herzen, der Halt in meinem Leben, Jesus o, Jesus!«, tönte es durch das Areal, und »Gott ist die Höchstnote, Gott verdient eine Zehn!«. Es war die Woche, in der die CD Minha Bênção (»Mein Segen«) des Pop-Priesters die Spitzenposition der Schlagercharts erobert hatte. Immer wieder rief der Geistliche während der Messe die Gläubigen zum Mitmachen auf. Wer das wegen seines Alters oder seiner Gebrechen nicht konnte, durfte gegen Schluss der Predigt leicht mit den Hüften schwingen, zur »Aerobic des Herrn«, wie Rossi das in einem gleichnamigen Lied nannte. Ob es allen gefallen habe, fragte er zum Schluss. Einstimmig brüllte die Masse Zustimmung. Ob sie wiederkommen wollten. Aber natürlich wollten sie. Ob sie denn bis dahin allen Sünden widerstehen könnten. Auch das, versprachen die Begeisterten, womöglich etwas zu vorschnell. Und zum Abschied gab es Weihwasser aus großen Kübeln. Wer wollte, konnte es sich über den Kopf schütten lassen – in der brütenden Hitze eine seligmachende Erfrischung.
Auch die Pfingstkirchler verfügen über eigene Gesangstars mit religiösen Hits. Die Pastorentochter Aline Barros gilt als eine Art Céline Dion der Evangelikalen, sie hatte schon damals bei meinem Besuch mehrere Latino-Grammys gewonnen. Und in dem Gotteshaus von São Paulo, ausgestattet mit einer eigenen Tiefgarage, ging es eher noch spektakulärer zu als bei Padre Rossi. Da sprang ein Priester mit weißem Hemd und sorgfältig gebundener Krawatte auf der Bühne herum wie ein Rumpelstilzchen, rief begleitet von schrillen Orgelklängen alle zum Kampf gegen die Plagen der Welt auf. Versprach denen, die es nur fest genug wollten, Soforterlösung durch Exorzismus. »Satan, weiche! Hinweg mit dem Bösen aus euren Körpern!«, rief der Mann, und einige seiner christlichen Helfer gingen hinunter ins Publikum und legten den Sündern und den Kranken die Hände auf die Stirn oder nahmen sie in feste Umarmung. Manche weinten, andere lachten, viele gaben sich einfach dem Taumel der Masse hin. Anschließend ließ der Priester vorgedruckte Umschläge für Spenden verteilen.
Im November 2012 hat Rossi sein neues Gotteshaus Mãe de Deus (»Mutter Gottes«) eingeweiht, eine der weltweit größten Kirchen. Das von dem Stararchitekten Ruy Ohtake entworfene Gebäude mit seinem geschwungenen Dach erstreckt sich auf einem 30000 Quadratmeter großen Gelände im Süden von São Paulo. 44 Meter hoch ist das Kreuz und schon schon von Weitem zu erkennen – »das neue Postkartenmotiv von São Paulo«, sagt der Hausherr stolz. Finanziert hat er es nach eigenen Angaben hauptsächlich aus seinen Platten- und Bucherlösen. Rossis Agape Musical war jetzt mit 1,4 Millionen Tonträgern noch vor Samba-Prinzessin Paula Fernandes Nummer eins der musikalischen Jahreshits, sein Buch Nächstenliebe verkaufte sich fast achtmillionenmal. Nicht schlecht für einen Mann, der nun auch schon Mitte vierzig ist und nicht mehr ohne Weiteres den attraktiven Berufsjugendlichen geben kann.
So viel Erfolg fordert Neider heraus, auch unter katholischen Brüdern. Padre Ubaldo Steri etwa schmäht Rossi einen »Clown, der keine Ahnung von Theologie hat, er
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