Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Mensch und Gott herstellen. Je aufreizender die Rhythmen, desto besser: Exu liebt es dynamisch und sinnlich, seine Wahrzeichen sind ein großer Phallus und ein Dreispitz.
Bald stehen die ersten Frauen auf, dann werden es mehr, und schließlich tanzen fast alle einen Tanz wie aus einer anderen Welt. Die Zeremonienmeisterin stimmt einen Text an, der klingt wie ein Rap, schnell wiederkehrende, aufrüttelnde Strophen, in die nach und nach alle einfallen. Und schon fangen die ersten an zu taumeln, zu zucken, manche Gliedmaßen versteifen sich, andere entwickeln ein merkwürdiges, unnatürliches Eigenleben. Eine Trance hat die Menschen erfasst, würden wir Ungläubigen sagen. Die Götter haben »uns heilige Kinder« gepackt, sagen die Candomblé-Anhänger: Wir haben ihnen unsere Körper zur Verfügung gestellt, sie sind in uns eingedrungen, sie wurden zu einem Teil von uns. Nach der Trance-Erfahrung sinken die Eingeweihten erschöpft in sich zusammen, erst nach einiger Zeit haben sie wieder die Kraft, sich an einem Buffet zu stärken. Ein Teil des Fleisches ist dabei tabu – bestimmte Stücke werden den Göttern geweiht, als Zeichen der Dankbarkeit. Wie genau der Abend endet, bleibt ein Geheimnis: Die Gäste werden vor dem Schlussakkord, nach einer etwa dreistündigen Zeremonie, gegen Mitternacht hinausgebeten. Manchmal, sagen die Eingeweihten, gehe die schwarze Messe bis in die frühen Morgenstunden.
Die Gottheiten des Candomblé haben ihre ganz bestimmten Persönlichkeiten, Fähigkeiten und rituellen Präferenzen; sie werden mit spezifischen natürlichen Phänomenen wie Luft, Wasser, Erde, Feuer und Wind in Verbindung gebracht. Als Oberhaupt des Pantheons fungiert Oxalá, er besitzt die höchste Autorität, seine Farbe ist Weiß, sein Tag der Freitag. Oxalá gilt als gnädig, friedfertig und weise, die westafrikanischen Stämme, aus deren Glaubenswelt er hervorgegangen ist, glauben allerdings, dass er sich bei der Schöpfung der Welt einmal eine Schwäche geleistet und sich sinnlos betrunken hat. Daraus resultierten dann die Menschen, die behindert zur Welt kamen. Oxalá nimmt sich nach den Vorstellungen des Candomblé auch deshalb besonders der Kranken, Schwachen und Alten an. Sein ungestümer Partner ist Xango, der Herrscher über Feuer, Blitz und Donner. Er duldet keinen Widerspruch und muss besser bei Laune gehalten werden. Beileibe nicht alle Gottheiten sind männlich, die weiblichen sind genauso wichtig. Dazu zählt an vorderster Front Yemanjá, die Herrscherin der Meere. Ihr Bild ist in Salvador allgegenwärtig. Hunderte Restaurants, Bars und Geschäfte feiern sie als eine sexy Sirene, kurviger Körper, nur von Muscheln bedeckt.
Inzwischen haben auch viele Christen die afrobrasilianischen Götter adoptiert. Es ist durchaus nicht unüblich, dass auch die weiße Oberschicht sie anrufen, dass Politiker, Wirtschaftsbosse oder Künstler ihnen opfern. Es sind oftmals nur Rituale, und manches mag auch der Wähler-Beeindruckung geschuldet sein. Aber immer liegt in dieser Anrufung des Überirdischen auch ein Ausweichen vor dem Weltlichen. Der Jahresrhythmus wird bei den Candomblé-Gläubigen wie bei den meisten Katholiken in diesem Land vom Umgang mit den Gottheiten bestimmt. Sie sind die Stützen für die Bewältigung des Alltags, sie beruhigen. Sie sedieren aber auch. Sie können zum Fatalismus, zur Passivität erziehen.
Die vatikanische Kirche wie die indigenen »schwarzen« Religionen machen es den Menschen schwer, selbstbestimmt zu handeln. Diesen mangelnden Willen, für sein Schicksal Verantwortung zu übernehmen, hat ausländische Sozialarbeiter wie aufgeklärte Gläubige immer wieder frustriert. Sie stellten fest, dass gerade die Religion viele Brasilianer autoritätshörig macht, sie sagen lässt, die Dinge seien nun einmal so, wie sie sind. Die stark hierarchisch geprägten Verhältnisse werden so verfestigt. Die Religion bremst fortschrittliche Entwicklungen: Das kann man Evangelikalen (und auch den Anhängern der katholischen Dissidenten von der Befreiungskirche) nicht vorwerfen. Der wachsende Einfluss der Pfingstkirchen auf die Gesellschaft macht allerdings nicht gerade Mut: Zwar erreichen diese Gruppen auch Unterschichten und ermutigen sie zum Aufstieg, zwar mögen sie in Einzelfällen Drogen- und Alkoholabhängige von ihrer Sucht befreien. Aber mit ihren dubiosen Spendenforderungen und anderen Zwängen werfen sie dunkle Schatten auf die Zukunft. Keine der großen theologischen Richtungen nimmt sich
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