Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
feiert Messen mit Karaoke-Charakter, da können die Leute ja gleich ins Kino gehen«. Den Befreiungstheologen Boff stört an Rossi eher, dass er den Alltag und die Ungerechtigkeiten wegsingt, dass er so selten über die real existierenden sozialen Probleme des Landes spricht, über Armut und Arbeitslosigkeit: »Er lädt stattdessen nur zum Tanzen ein.«
Katholisch-charismatischer Wohlfühl-Gott gegen protestantisch-pfingstlerischen Wohlstands-Gott: Viele glauben, dass in Brasilien eine Art spirituelles Duell zwischen diesen beiden Glaubensrichtungen tobt. Christentum in seinen verschiedenen Ausprägungen, und sonst gar nichts. Doch in Wahrheit ist die Lage viel komplexer. Zwar kommen Katholiken und Protestanten bei den einschlägigen nationalen Erhebungen gemeinsam auf fast 90 Prozent Anteil in der Bevölkerung, 8 Prozent nennen sich Atheisten – aber das sind nur statistische Werte, die wenig über die geistliche Lebenswirklichkeit aussagen. Brasilien ist in Wahrheit wie kaum ein anderes Land der Erde ein Jahrmarkt der Religionen, ein spirituelles Experimentierfeld, eine Melange unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Hier blüht alles an Heiligem, was unter dem Himmel erdenklich ist. Den Hauptanteil daran haben die weitverbreiteten afrikanischen Kulte, die sich gelegentlich in Reinkultur über die Jahrhunderte erhalten, weit häufiger aber mit Vorstellungen anderer Gemeinschaften gemischt haben: Macumba, Umbanda, Candomblé. Sie heißen nicht nur so melodisch und mythisch und mysteriös, sie machen ihren klingenden Namen auch alle Ehre.
Nur wenig mehr als ein Prozent aller Brasilianer bekennen sich zu einer afroamerikanischen Religion. Es gibt gute Gründe, warum die Indigenen statistisch so weit unter »ferner liefen« registriert werden. Die Sklaven, die Großgrundbesitzer ab dem 16. Jahrhundert als Arbeitskräfte aus Afrika holten, wurden in der Kolonie zwangsweise getauft. Sie behielten in Wahrheit aber ihre Götter bei und tarnten sie, um keinen Ärger zu bekommen, vielfach als katholische Heilige. Da die Sklaven aus diversen Regionen des »Schwarzen Kontinents« herangeschafft wurden, mischten sich die verschiedenen afrikanischen Traditionen untereinander und verschmolzen oft auch mit Elementen des für sie neuen Glaubens aus der Ferne. Zwar blieben ihnen Lehrelemente wie die jungfräuliche Geburt oder die Heilige Dreifaltigkeit sehr fremd, aber andere Riten des römisch-katholischen Glaubens kamen ihren spirituellen Vorstellungen durchaus nahe, etwa die farbenprächtigen Prozessionen, die Gelübde, die Verehrung von Schutzheiligen, die familiäre Volksfrömmigkeit. Noch in der Vargas-Diktatur zwischen 1930 und 1945 wurden die Macumba-Anhänger, die sich offen zu ihren Kulten bekannten, als Hexenmeister und böse Zauberpriester verfolgt, inhaftiert und teilweise sogar gefoltert.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sich dann manche indigenen Glaubensrichtungen so mit dem Christentum vermischt, dass neue synkretistische Kulte entstanden. Sie wurden auch für die weiße Mittelschicht attraktiv. Ein getaufter hellhäutiger Katholik in Rio oder São Paulo konnte – und kann – gleichzeitig die indigenen Götter und auch Jesus Christus und Maria verehren. Für die Nachfahren der Sklaven, die Brasilianer afrikanischer Abstammung, gilt dies ebenso. Und doch stellt sich für sie eine andere Frage: Sollen sie ihre Religion wieder »reinigen« und so mit der Integrationskraft ihrer spirituellen Vorstellungen die eigene Identität behaupten? Oder bringt sie die Melange mit dem katholischen und protestantischen Glauben einem wünschenswerten Schmelztiegel, verbunden mit gleichen Rechten in allen Lebensbereichen, entscheidend näher?
Macumba, Umbanda und Candomblé sind trotz ihres gemeinschaftlich afrikanischen Ursprungs unterschiedlich. Im Macumba spielen Fetische und Voodoo eine große Rolle, die Verbindung mit den Toten wird besonders gepflegt. Im Umbanda verbinden sich spirituelle Wesen irdischer Herkunft mit den Geisteswesen aus dem Jenseits, traditionelle Medizin und Heilungskräfte stehen im Zentrum. Am weitesten verbreitet unter den afrobrasilianischen Religionen ist Candomblé, dessen spiritistische Komponente mit genau vorgeschriebenen Zeremonien am ausgeprägtesten ist. Die meisten Terreiros oder Casas, wie die Candomblé-Tempel genannt werden, stehen im Norden des Landes, Zentrum der Religion ist Salvador de Bahia. Die einstige Hauptstadt des Landes war von 1538 an für drei Jahrhunderte
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