Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Bollywood-Liebhaber umtreibt, eine Sensation. Shah Rukh Khan hat es tatsächlich getan. Er hat in dem Ende Dezember 2012 herausgebrachten Film Jab Tak Hai Jaan tatsächlich und ganz deutlich die Lippen seiner Partnerin Katrina Kaif mit seinen Lippen berührt – ein Ereignis, das in Indien mindestens so intensiv diskutiert wurde wie der Test der ersten eigenen Atombombe. »Dieser Kuss war ein unglaublich wichtiger Moment«, urteilt beispielsweise der Soziologieprofessor Sanjay Srivastava. »Shahrukh Kan definiert, was geht. Wenn er es tut, wird es akzeptabel.«
Vielleicht kann sich jetzt auch Richard Gere wieder nach Indien trauen. Im Jahr 2007 hatte er bei einer Aids-Benefiz-Veranstaltung vor Tausenden Menschen eine Bollywood-Aktrice spontan auf den Mund geküsst. Er wurde bedroht und musste bei Nacht und Nebel aus dem Land fliehen. Der Haftbefehl gegen ihn wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses wurde formal nie aufgehoben.
Kurz vor neun Uhr abends in Bombay. Dinnerzeit in einer Villa im vornehmen Stadtteil Bandra. Priya Dutt, die Hausherrin, Pony-Frisur, sportliche, unauffällige Jeans, ist spät dran, und das macht sie nervös. Sie hat einen Termin. Die Einladung der Bombayer Industriellenvertretung zum Dinner im noblen Restaurant Vie hat sie schon abgesagt, trotz der hervorragenden Küche dort, der Vie-Hummer in Olivensauce ist stadtbekannt, das ofenfrische Korianderbrot eine Delikatesse. Sie lässt sich selten bei den Social Events der Reichen und Schönen blicken, das Gerede um den teuersten Diamanten, die neueste Luxusboutique und den schicksten Sportwagen geht ihr auf die Nerven – sie kennt die wahren Probleme des Lebens, obwohl sie selbst zu den Gutsituierten gehört. Priya Dutt ist Abgeordnete des nationalen Parlaments für Bombay Nordwest, ein Wahlkreis überwiegend mit Slum-Bevölkerung. Und dorthin muss sie heute Abend, Besprechungs- und Beschwerdestunde. Sie will ihr Versprechen halten. Nicht leicht, wenn man auch noch familiäre Verpflichtungen hat und der kleine Sohn Siddharta gerade hustet und weint und so gar nicht wie ein glücklicher Buddha aussieht. Es hilft nichts, sie muss ihn dem Personal anvertrauen.
Priya Dutt hatte kaum eine Chance, sich aufs Privatleben zu beschränken, sich der Öffentlichkeit zu entziehen – das ist in Indien oft so bei einer Prominentenfamilie. »Das wissen Sie ja, Sie kannten doch meinen Vater gut, und Sie kennen meinen Bruder«, sagt sie seufzend. Nargis, Priyas Mutter, gilt als eine der ganz Großen des indischen Kinos (»Mother India«). Sie starb früh an Krebs, ich habe sie nie getroffen. Aber mit Sunil Dutt, dem Vater, habe ich mich tatsächlich angefreundet. Auch er war ein preisgekrönter und künstlerisch anspruchsvoller Schauspieler, interessierte sich aber darüber hinaus leidenschaftlich für Politik. Er wurde Bürgermeister von Bombay, ging dann als Sportminister ins Kabinett Singh und hielt bis zu seinem Tod 2005 den Sitz der Kongress-Partei Bombay Nordwest im nationalen Parlament – fünfmal hintereinander gewann er dort die Wahl haushoch. Sunil Dutt war ein weltoffener Mann, der sich engagiert für die Ärmsten einsetzte und einen wesentlichen Teil seines Reichtums für bedürftige Krebspatienten und verkrüppelte Kinder spendete.
Skandalfrei – was man von seinem Sohn Sanjay nicht unbedingt sagen kann. Priyas Bruder verschaffte sich in Bollywood durch seine Mitwirkung in einigen Film-Hits Respekt, er spielte vor allem die brutalen Schurken sehr überzeugend. Aber er geriet auch selbst in dubiose Gesellschaft. Jedenfalls wurden bei dem jungen Mann während einer Razzia eine ziemlich große Anzahl unangemeldeter Waffen gefunden. Man beschuldigte ihn zwischenzeitlich, an Terroranschlägen und einer kriminellen Verschwörung beteiligt gewesen zu sein. Von diesem Verdacht wurde er freigesprochen, musste aber trotzdem ins Gefängnis. Bis heute drohen ihm Verfahren, obwohl er längst wieder erfolgreiche Filme dreht. Mir schien Sanjay Dutt bei unseren gemeinsamen Abenden immer naiv und gutmütig und ein wenig zu verwöhnt – ein großer, nie wirklich erwachsen gewordener Junge, durch den Übervater mit seiner Lebensrolle überfordert. Jedenfalls kam Sanjay als politischer Nachfolger nicht infrage. Und ein Parlamentssitz, der von einer Prominentenfamilie einmal erobert wurde, gilt als so etwas wie ein Grundrecht.
Blieb Priya. Sechs Monate nach dem Tod Sunil Dutts trat sie bei den Nachwahlen als Kongress-Kandidatin an und landete gleich auf Anhieb
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