Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Filmverträgen in einem Jahr.
Kein Regisseur kann es sich leisten, die Zensur nicht ernst zu nehmen. Miniröcke, Badeanzüge und knappe Tops sind erlaubt, Sexszenen sind im Land des klassisch freizügigen Kamasutra tabu. Die Einschränkungen machen erfinderisch. Bollywood-Regisseure spielen gerne Wettergott: Um möglichst viel Figur zu zeigen, regnet es in vielen Szenen heftig und unvermittelt, und die nassen Saris kleben verführerisch. »Ganz zentral neben den Songs sind die Tanzeinlagen«, sagt Regisseur Sivan, der aus einer berühmten Filmemacher-Familie stammt. Er muss sich keine Sorgen machen, wie er die Tanzszenen inhaltlich begründet. So engstirnige Richtlinien wie Logik gelten nicht für Bollywood – Sivan kann Kostüme und Orte wechseln, Traumsequenzen einbauen, das stört keinen. Hauptsache, die Songs und die Choreografie zünden. Die gelungensten Filme, weiß der kluge Spielleiter, schaffen eine Atmosphäre, die die gravierenden Alltagsunterschiede wie Kastenwesen, Religion, Sprachbarriere vergessen machen. Sie erzählen von der vollkommenen (oder wiedergefundenen) Familie, von der reinen Liebe, vom Mutterglück, vom Nationalstolz. Kaum irgendwo im realen Indien sind diese angeblich »zeitlosen indischen Werte« intakt – aber sowohl das heimische Publikum als auch die Diaspora-Inder finden dieses Idealbild in einer von Umbrüchen geprägten Gesellschaft in den Bollywood-Märchen: Sie bündeln die Sehnsüchte der Menschen, ihre Träume vom Glück und sozialem Aufstieg. Die Kinohelden sind nationale Helden, nur noch Cricketgrößen erreichen eine annähernd vergleichbare Popularität. Und sie stehen für eine neue, alles möglich machende Liberalität: Superstar Shah Rukh Khan ist als Muslim geboren, hat eine Hindu geheiratet und nennt sich einen praktizierenden Buddhisten. Filmstars, die in die Politik gingen, sind Legion und Legende: Shatrughan »Shotgun« Sinha etwa war Indiens Gesundheitsminister, Vinod Khanna Kulturminister. Marudhur Gopalan Ramachandran, besser bekannt unter seinen Initialen MGR , beherrschte ein Jahrzehnt lang, verehrt fast wie ein Gott, als Chief Minister den wichtigen südlichen Bundesstaat Tamil Nadu.
Für die Tanzchoreografie sucht jeder Regisseur die Crème de la Crème der einschlägigen Künstler. Früher belächelten die amerikanischen MTV -Stars die indische Konkurrenz, heute verneigen sie sich oft in Bewunderung. Viele Bollywood-Tanzszenen zählen zu den besten, was weltweit zu sehen ist. Bombay holt sich die hübschesten und begabtesten Bewegungskünstler aus aller Welt. Neben Russinnen, Ukrainerinnen und Amerikanerinnen sind derzeit auch Brasilianerinnen en vogue. So kann man in diesen Tagen häufig langbeinige südamerikanische Schönheiten an dem Juhu Beach bewundern, dem Strand, der von der Weite und der Karneval-Atmosphäre her der Copacabana noch am nähesten kommt. Und beobachten, wie ein westöstliches Ensemble akrobatisch die Beine durcheinanderwirbelt, während aus dem Lautsprecher ein Mischmasch aus HipHop und afrikanischen Trommeln, Dudelsack, Elektrogitarre und Sitar zu einer eingängigen Weltmusik verschmilzt. Anschließend gehen die Tänzerinnen aus Rio, die Schwierigkeiten mit dem indischen Essen haben, übrigens gerne zu ihrem Bombayer Lieblings-Chinesen. Ins Restaurant New Shanghai.
Lange Zeit galt es als offenes Geheimnis, dass Bollywood hauptsächlich von Unterweltskreisen finanziert wurde, die so ihr schwarzes Geld wuschen. Produzenten machten sich abhängig von den Syndikaten, Gangster terrorisierten widerspenstige Regisseure und erpressten Schauspieler. Im Jahr 2001 erkannte Indiens Regierung dann die Filmbranche als förderungswürdig an und ermöglichte so günstige Bankkredite. Seither ist die Abhängigkeit vom organisierten Verbrechen zurückgegangen, aber die gegenseitige Faszination von Unterwelt und Filmwelt bleibt dennoch stark.
Sieht Regisseur Sivan einen neuen Trend? Wird die Masala-Formel entscheidend variiert oder weiterentwickelt? Der Regisseur schüttelt den Kopf. Allerdings ist für ihn unverkennbar, dass Bollywood gerne Vorreiter einer politischen Friedensentwicklung wäre: hin zur Versöhnung mit dem Erzfeind Pakistan. »Wir haben seit Mitte des letzten Jahrzehnts mehrere Filme, die das zum Thema machten – und mit Meera sogar einen Superstar von drüben. Ich bekomme aus Pakistan viel Fanpost, obwohl wir dort offiziell unser Filme nicht zeigen dürfen.« Und dann ist da in den vergangenen Monaten noch etwas, das alle
Weitere Kostenlose Bücher