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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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beziehungsweise zu langen Gefängnisstrafen verurteilt; Wandzeitungen der KP hetzten gegen die »Linksabweichler« und stellte sie als Hunde und monströse Putschisten dar, die den Großen Vorsitzenden hintergangen hatten; Mao, der wahre Hauptschuldige für die Exzesse, blieb auch posthum ein Gott. Mit allenfalls kleinen Fehlern.
    Immerhin gelang es meiner Frau und mir in Peking mithilfe der deutschen Botschaft, zwei Flüge nach Schanghai zu buchen. Es sollte ein Trip mit vielen Hindernissen werden. Die Maschine der staatlichen Fluggesellschaft CAAC kam verspätet gegen elf Uhr abends an. Am Flughafen von Schanghai gab es weit und breit kein Taxi. Nach langem Warten versuchten wir es auf der Hauptstraße Richtung Innenstadt per Anhalter, der Fahrer eines Treckers lud uns auf seinen Anhänger und brachte uns auf halber Strecke in ein Regierungsgästehaus, wo wir nach einigen Diskussionen von kopfschüttelnden, aber mitleidigen Parteikadern aufgenommen wurden. Am nächsten Morgen schafften wir es dann ins Zentrum, landeten schließlich in der einzigen Herberge im Zentrum, die damals überhaupt zur Aufnahme nicht-offizieller ausländischer Gäste berechtigt war. Das Zimmer war schlicht und funktional: Bett, Schrank, zwei Stühle. Wasserhahn und Toilette funktionierten. Allerdings weckte uns nachts ein Rascheln aus dem Papierkorb. Eine Ratte hatte sich über unsere Kekse hergemacht. Aber immerhin: Ich war zurück in Schanghai.
    Es ist noch keine 35 Jahre her, und doch lassen sich die damalige Stadt und die heutige Metropole überhaupt nicht vergleichen. Wohl kein Ort der Welt hat solch eine dramatische Entwicklung mitgemacht. Damals war der Bund noch weitgehend unbeleuchtet, die Hauptstraße Nanjing Lu weitgehend frei von Restaurants und Geschäften (abgesehen vom »Kaufhaus Nummer eins« mit seinen wenigen Basisprodukten). In der Nähe des Jinjiang-Gebäudes, in dem sich einst der Große Vorsitzende und US -Präsident Richard Nixon getroffen und die Aufnahme bilateraler Beziehungen beschlossen hatten, konnten wir die Villa besichtigen, in der die Viererbande ihre Privatgemächer hatte. Zimmer wie Ballsäle, ein 20-Meter-Indoor-Swimmingpool, alles gespenstisch leer. Nach Pudong, auf die andere Seite des Huangpu-Flusses, fuhr nur alle Stunde eine verrostete Fähre – wer wollte damals schon nach »drüben«, wo hinter ein paar baufälligen Arbeiterhütten das Brachland begann. Immerhin war die Stadt im Vergleich zu meinem ersten Besuch von 1977 nicht mehr ganz so mausgrau. Die Babys durften 1980 schon Farben tragen, Selbstgestricktes, Selbstgehäkeltes, eine kleine rosarot-hellblaue Revolution.
    »Nach dem Sturm erhebt sich der gebeugte Bambus« sagt ein chinesisches Sprichwort. Und so war es auch mit Schanghai. Jahr für Jahr, bei jeder meiner Reisen, wurden mehr Veränderungen sichtbar. Die ersten privaten Fahrradreparaturwerkstätten entstanden, und auf den ersten freien Märkten boten Bauern aus dem Umland ihre auf eigene Faust angebauten »Nebenprodukte« an – es gab nach Jahrzehnten wieder Kirschen und Erdbeeren zu kaufen. Als Nächstes kamen die Hochzeitsgeschäfte, die den Bräuten für den schönsten Tag im Leben kostbare Kleider ausliehen. Dann die Fotostudios, die die festlichen Ereignisse für das Familienalbum festhielten. Privatfriseure, Privatschlachter, Privatkopierer von Musikkassetten und Filmen. Die ersten ein, zwei Luxushotels. Und in ihrer Nähe, was einer Sensation gleichkam, die ersten privat geführten Bars mit verheißungsvoll klingenden Namen wie »Manhattan« und »Fortune«, nicht viel mehr als Hinterzimmer an der Straßenecke. Die Schanghaier hatten ihren von der Partei unterdrückten Unternehmergeist wiedergefunden. Wo immer der schottische Whisky, der französische Brandy auch herkam, man musste die Pionierleistung würdigen. Auch wenn die Drinks ein kleines Vermögen kosteten.
    Schanghai stand bis Ende der Achtzigerjahre nicht gerade hoch in der Gunst der Partei. Die Stadt wurde von den kommunistischen Kadern misstrauisch beäugt wie ein notorisch gefährdeter Sünder, ein den Lastern verfallender Delinquent. Sie entwickelte sich zwar schnell, so wie das ganze Land, aber doch weniger rasend und revolutionär wie die südlichen Metropolen Guangzhou oder Shenzhen im Perlflussdelta oder Wenzhou, 400 Kilometer vom Jangtse-Delta entfernt, Dengs bevorzugte Experimentierstädte. Immerhin nahmen die Schanghaier inzwischen ziemlich ungezwungen Kontakt mit Ausländern auf. Am Bund sprachen uns

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