Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
luxuriös-plüschigem Ambiente«, warb eine Diskothek. »Jetzt ist es so weit: Die Dekadenz ist zurück in Schanghai!« Im ebenfalls neu eröffneten kommunistischen Museum der Revolution, um die Ecke gelegen, durften Besucher einige lebensechte Wachsfiguren-Revolutionäre bewundern und von deren Entbehrungen hören; im Andenkenladen ließ sich in einem Prägeautomaten ein Mao zum Mitnehmen drucken oder auch eine private Botschaft stanzen: I love you . Trotz der vergleichsweise sehr niedrigen Preise – fünf Mao-Münzen für ein Paulaner-Bier – wirkte das Revolutionsmuseum verwaist. Die Jugendlichen drängten sich lieber in den Ferrari-Showroom, kaum einen Steinwurf entfernt, und bestaunten die Boliden.
Die Stadt sei ein Modell, sagte die Partei. Aber wofür soll das Modell Schanghai stehen? Für eine Rückkehr des Manchester-Kapitalismus mit billigen, ausgepressten Arbeitskräften und einer Schicht von Superneureichen? Für einen gemäßigten Sozialismus, der versucht, alle Bewohner gerecht am steigenden Lebensstandard teilhaben zu lassen? Für eine wie auch immer geartete Utopie von einem besseren ›neuen Menschen‹?«
Immerhin: Im Peace-Hotel durfte die Rentnerband jetzt wieder Jazz spielen. Das Durchschnittsalter der sechs Herren war Mitte siebzig und sie trafen nicht immer den richtigen Ton. Doch ihr »Sentimental Journey« erfreute Touristen wie nostalgisch gestimmte Einheimische. Und zwischenzeitlich machte sogar das Paramount wieder auf, der legendäre Art-déco-Tanzpalast aus den Dreißigerjahren in der Nähe des Jiangan-Tempels, festangestellte Gigolos inklusive. Dreimal in der Woche fand sich auch Tang Weihong ein, die geschmeidige alte Dame weit über achtzig, die hier schon als Debütantin übers Parkett geschwebt war, und schnappte sich einen der großgewachsenen Jungen mit Pomade im Haar zum heißen Tango.
Parallel zu der Rückkehr des Klassischen begann sich in Schanghai auch eine Gegenkultur zu entwickeln. So wie sich die Künstler in Manhattan ihr SoHo erschlossen und später die abrissgefährdeten Bauruinen südlich, so besetzten Schanghais bildende Künstler alte, stillgelegte Fabrikgebäude. Doch kaum hatten sie sich notdürftig Ateliers angelegt, kamen die Bauspekulanten oder die Stadtoberen und evakuierten. Mit der Zeit begannen wenigstens einige der Schanghaier Funktionäre umzudenken, fingen an, den Malern und Bildhauern zuzuhören. Die Kompromissbereitschaft war nicht ihre Idee. Die Stadt hatte einen Beraterstab unabhängiger ausländischer Experten eingerichtet, die meisten aus dem Westen, man wollte wissen, wie sie über die Zukunft der Metropole dachten. Die Anregungen der westlichen Fachleute und CEO s – unter anderem Heinrich von Pierer, der damalige Siemens-Chef – kamen für die Schanghai-Funktionäre überraschend und geballt: Schanghai solle sich endlich um den Denkmalschutz bemühen, sein Erbe nicht zerstören, und es sollte der Kultur mehr Raum geben, nur so könne es langfristig Weltstadt bleiben.
Mehr zähneknirschend denn überzeugt eröffnete die Partei daraufhin künstlerische Spielwiesen. Sie gestattete den Malern, in der Moganshan 50 das zum Abriss bestimmte Gelände einer Textilfabrik zu übernehmen. Innerhalb kurzer Zeit entstanden so um das Jahr 2004 primitive Arbeitsräume und zugige Ad-hoc-Galerien. Vieles wirkte auf mich wie ein Vexierbild, vieles schien bald auf kommerziellen westlichen Geschmack ausgerichtet. Eher spielerische Schanghaier Selbstironie als wirklich experimentelle oder gar künstlerisch kraftvolle Selbstreflexion – eine verkaufsträchtige Mischung aus Comic, Werbung und Agitprop. Mao tauchte da auf, gemeinsam mit Micky Maus. Die interessantesten Künstler zeigten ein Schanghai zwischen strahlender Zukunft und grenzenlosem Grauen. Zhong Biao beispielsweise, der Frauengestalten so schön wie Models malte und sie durch eine glückliche Stadt tanzen ließ. Aber auf jedem seiner Werke fielen im Hintergrund auch Menschen von den Dächern, stürzten in den Tod. »Sie leiden an der Schanghai-Krankheit«, erklärte er. »Sie hat noch keinen richtigen Namen, aber sie blendet die Menschen.« Andere wurden deutlicher, politischer: Sie zeichneten wie Lao Fan den Großen Vorsitzenden in wenig vorteilhaften Posen. Der Künstler musste zwischenzeitlich untertauchen, KP -Sittenwächter zogen einige seiner Werke aus dem Verkehr.
Die Grenzen der künstlerischen Freiheit testeten auch die Schriftsteller aus. Sie reklamierten ein Recht auf Rausch, auf
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