Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Und selbst in die Platanenalleen der Französischen Konzession rückten die Bagger vor. Wer glaubte, dass da nur »Ausländisches« von der Abrissbirne bedroht wäre, musste sich im alten China-Viertel um den Yu-Garten und seine Zickzackbrücke eines Besseren belehren lassen: Den Chinesen, sonst so stolz auf ihr Erbe, schien in ihrem Fortschrittswahn nichts heilig. Wenigstens der Bund entstand im alten Glanz wieder, hauptsächlich durch die Initiative ausländischer Investoren. Die Einheimischen verfolgten die Restaurierungsarbeiten eher kopfschüttelnd: Warum Altes umständlich bewahren, wo man doch auch Wolkenkratzer mit Drehrestaurants bauen konnte?
Schanghai – eine Stadt wie auf Speed, unsentimental bis zur Selbstverleugnung und süchtig nach Superlativen. Vorreiterin für das angeblich zwangsläufig anbrechende »chinesische Jahrhundert«. Der »Kopf des Drachen«, der für den Rest der Nation vordenken und die Nation in die richtigen Bahnen lenken soll. Dass dieses Schanghai wieder zu einer Weltstadt geworden ist, bestätigen auch die ehrfürchtig-euphorischen Urteile des Westens. »Die Metropole der Zukunft, die es mit dem Chic von Paris, der Sophistication von New York und den futuristischen Schwingungen von Tokio aufnimmt«, heißt es überschwänglich im sonst so nüchternen britischen Economist . Die »aufregendste Stadt auf dem Planeten« urteilt die Washington Post . Und für Forbes ist Schanghai nicht mehr und nicht weniger als das »Tor zu den Profiten, für Unternehmer der vielversprechendste Platz der Welt«. Chinas Metropole war um die Jahrtausendwende auch zu einem beliebten Reiseziel geworden. Die New York Times fragte: »Warum Sie nach Schanghai fahren sollten? Ganz einfach: Weil Sie dabei einen Blick in unsere Zukunft werfen können.«
2002 folgte dann ein weiterer internationaler Ritterschlag: Heftig beworben von der KP , aber zusätzlich gefördert von Großkonzernen wie Coca-Cola und Alcatel, erhielt Schanghai den Zuschlag für die Weltausstellung. Es war auch das Jahr, in dem der deutsche Transrapid in der chinesischen Ferne einen Triumph feierte: Die Magnetschwebebahn nahm ihren Betrieb vom Flughafen in die Stadt auf, 30 Kilometer unter acht Minuten, Höchstgeschwindigkeit 430 Stundenkilometer. Die technische Errungenschaft bedeutet im Alltag wenig – der Maglev endet in einem Außenbezirk, der praktischste Weg des Reisenden vom internationalen Flughafen Pudong führt immer noch per Taxi in die Innenstadt; der Betrieb ist selbst nach Eingeständnis chinesischer Behörden defizitär. Aber das Prestigeprojekt zeigte, was in Schanghai eben so geht, und in welchem atemberaubenden Zeitraum: Machbarkeitsstudie im Juni 2000, Projektunterzeichnung Januar 2001, Einweihung und erste Fahrt (mit Ministerpräsident Zhu Rongji und Bundeskanzler Gerhard Schröder) Dezember 2002. Möglich gemacht wurde das alles durch hervorragende Techniker, kompetente Planer – und skrupellose Politiker, die innerhalb weniger Monate alle notwendigen Grundstücke zwangsverkauften und im Weg stehende Häuser zwangsabreißen konnten. Abbruch und Aufbau besorgte bei diesem Großprojekt wie bei ähnlichen Großprojekten im Land ein Heer von Wanderarbeitern, die aus den armen Provinzen der Volksrepublik in die Metropolen strömten. Die billigen, willigen und stets verfügbaren Arbeitskräfte, meist in provisorischen Unterkünften zusammengepfercht, wurden zur Grundlage des Wirtschaftswunders. Eine Arbeiterklasse, die längst nicht mehr die selbstbewusste Vorhut der alten Revolution bildete, sondern das weitgehend rechtlose Treibgut einer neuen Revolution.
Schanghai blieb eine Stadt der Gegensätze, der Parallelwelten und manchmal auch des Déjà-vu: Für fast 300 Millionen Dollar entstand eine Rennstrecke, damit der Formel- 1 -Zirkus auch hier haltmachen konnte, während an der aufgeputzten Nanjing-Hauptstraße Krüppel in selbst gebastelten Rollstühlen Touristen anbettelten. Vor dem Restaurant Che im neuen Vergnügungszentrum Xintiandi, durch die Restaurierung eines Arbeiterviertels entstanden, warb ein Poster mit dem kubanischen Volkshelden, es zeigte ihn augenzwinkernd: »Schon wieder eine neue Revolution – wir senken die Cocktail-Preise um 30 Prozent!« Im La Maison nebenan hatten die Gäste im dritten Stock den perfekten Blick auf eine Bühne mit leicht bekleideten Showgirls. Im Paulaner servierten Kellnerinnen im Dirndl deutsches Bier und Würstchen. »Willkommen zu unserer Neueröffnung in
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