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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Schüler an, praktizierten mit unserem Sohn ihr neu erworbenes Englisch, bestanden darauf, uns zu einem Softeis einzuladen, der letzte Schrei. Wir mussten auf jedes Foto der ersten chinesischen Kamerabesitzer. »Ah, Sie kommen aus Hamburg, aus unserer Partnerstadt«, sagten uns manche stolz. Sie wussten, dass sich ihr Schanghai 1986 mit der Hansestadt »verschwestert« hatte und waren stolz auf diese wiedergewonnene Weltläufigkeit.
    Dann gab es einen furchtbaren politischen Rückschlag. Die Partei ließ am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking Panzer auffahren und die Demonstranten zusammenschießen. Auch in Schanghai setzten die Funktionäre Waffen ein, ließen Protestierende verprügeln und verhaften. Das ganze Land war wie gelähmt, eine solch brutale Machtdemonstration hatten die meisten nicht mehr für möglich gehalten. Doch so rigoros die KP auch in den kommenden Monaten jede grundsätzliche politische Opposition unterdrückte, so wenig konnte und wollte sie die wirtschaftliche Öffnung zurücknehmen. Deng Xiaoping, der Mann, den viele für einen Liberalen gehalten hatten, der aber den Einsatzbefehl gegeben hatte, reiste Anfang 1992 in den Süden des Landes und pries die Sonderwirtschaftszonen. Er gab bei diesem denkwürdigen Trip endlich auch dem Wirtschaftsstandort Schanghai seinen Segen: »Mein Fehler, dass wir dort mit den ökonomischen Reformen so lange so zögerlich waren.«
    Die Wirtschaft nahm nun nicht mehr einfach nur zu, die Zahlen explodierten, Jahre mit einem Wachstum von 15, 17, 19 Prozent wurden in Schanghai zur Regel. Die Stadt wurde zum Containerhafen Nummer eins der Welt. Die »alten« Industrien wie etwa die Stahlbranche boomten, aber vor allem profilierte sich die Stadt als Standort für die Entwicklung von Bio-, IT - und Mikroelektronik-Industrien. Mit der Neuen Wirtschaftszone Pudong auf der anderen Seite des Bunds ging es nun atemberaubend schnell aufwärts. Schanghai legte sich ein anderes, ein futuristisches Gesicht zu. Ein ganzer Spargelwald von Hochhäusern schoss um den pompösen Fernsehturm und das Jin-Mao-Gebäude mit dem Grand Hyatt, dem damals höchsten Hotel der Welt, in den Himmel. Ein U-Bahnnetz entstand und immer neue Hochstraßen zogen sich wie aufgebäumte Schlangen durch das Stadtgebiet. Oft so dicht an den oberen Stockwerken von Häusern vorbei, dass die Autofahrer die auf den Balkonen aufgehängte Wäsche berühren konnten. Auch wer nach nur sechs Monaten zurückkehrte, hatte Probleme, die Stadt wiederzuerkennen.
    Der Lebensstandard stieg, und Schanghai gab sich wieder einen internationalen Anstrich. Auf den Märkten tauchten heimlich gebrannte Musik- CD s und Kopien von Hollywood-Filmen auf, findige Händler kopierten Designer-Handtaschen und Haute-Couture-Kleidung und verkauften sie den zunehmend modebewussten Schanghaierinnen zu erschwinglichen Preisen. Aus dem Fahrradstrom wurde ein Mopedstrom, und bald schon verstopften die ersten Kleinwagen die Straßen und konkurrierten mit den behäbigen Kader-Limousinen einheimischer Bauart. Man sah auch immer mehr Volkswagen auf den Straßen. Schon 1984 hatte VW in dem Vorort Anting begonnen, den Santana zu produzieren, der als Bausatz zur Montage importiert wurde. In den Neunzigerjahren, als die Firma längst zu einem offiziellen Joint Venture mit chinesischer Beteiligung verschmolzen war, hob die Produktion dann mit dem Passat und dem Polo endgültig ab.
    Die alten Tempel und Kirchen, die teilweise geschlossen oder sogar als Lagerhäuser entfremdet wurden, waren wieder für die Gläubigen geöffnet, überall konnte man auch die Rückkehr der privaten Hausaltäre mit ihren Opfergaben beobachten. Doch in den Schatten gestellt war diese Rückkehr der alten Gebräuche vom Aufkommen eines neuen Glaubens, und der hieß weder Daoismus noch Buddhismus und schon gleich gar nicht Kommunismus: Es war die Anbetung von Konsum und Kommerz. Immer mehr Kaufhäuser, Boutiquen und Schnellrestaurants entstanden, rücksichtslos wurden ganze Stadtgegenden plattgemacht, die alten Häuser abgerissen. Das jüdische Viertel Hongkou mit der alten Synagoge hätte eigentlich Stolz dieser Metropole sein müssen. Denn sie hatte ja nicht nur Glücksritter und Geschäftsleute angelockt, sondern war auch ein Refugium. Ohne Visumszwang oder Zuzugsauflagen hatten Zehntausende vor osteuropäischen Pogromen und den Gräueln der Nazidiktatur hierher flüchten können. Doch auch dieses Hongkou musste jetzt weitgehend Neubauten weichen.

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