Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Drogen, auf Sex-Exzesse, auf Egomanie – und zeigten in ihren Büchern wie in ihrem Lebensstil deutlich ihre Verachtung für die Partei und den Überwachungsstaat. Es war 2004, quasi Vor-Internet-Zeit. Der Untergrund kannte damals noch keine Blogger und er hatte auch keine festen Treffpunkte. Alles war in Bewegung, alles erlaubt, oder vielmehr: wurde sich erlaubt. Die Chronistin dieser eigenwilligen Szene war die Schriftstellerin und Filmemacherin Wang Shen, bald bekannt unter ihrem Künstlernamen Mian Mian.
Ihr Programm hieß Tabubruch, Nihilismus, nicht demokratische Veränderungen. Immer wenn wir uns trafen, trug sie Schwarz, Chiffon und Seide, Coco-Chanel-Hütchen. Retro-Schick der Dreißigerjahre. Und immer Sonnenbrille, auch wenn in einem Szenetreff wie der Bar YY (für Yin und Yang) kein grelles Licht drohte, sondern nur gnädig abgedunkelte, schummrig-chice Dämmerbeleuchtung. Hielt sie Schanghai für eine künstlerfreundliche, künstlerinspirierende Stadt? »Ach, fuck«, sagte die blass Geschminkte. »Es geht um die Gesamtperspektive, um die Selbstgefälligkeit, den Nihilismus dieser Metropole. Wenn ich schreiben will, dann muss ich erst mal Verletzungen erleben. Diese Stadt fügt sie mir zu, deshalb brauche ich sie. Schanghai ist wie ich: launisch, verwöhnt, selbstbezogen, arrogant – weiblich eben.« Sie sagte solche Sätze bei unseren Treffen ungeschützt, sprach ohne Punkt und Komma, ein hochbegabtes literarisches It-Girl. »Diese Stadt und ich wollen beide das Gleiche, wir wollen reich und berühmt werden, und wir nehmen dafür die Überholspur.« Stillstand oder gar Besinnung, das hieß in ihrer Welt Versagen. Selbstmord wäre eine Variante, hat sie einmal geschrieben; aber Selbstmord hilft dann doch nur den anderen und ist letztlich uncool.
Mian Mian war damals schon berühmt durch ihre Kurzgeschichten. Die Tochter aus einer wohlsituierten Familie – Vater Ingenieur, Mutter Oberschullehrerin – hatte eine Karriere als Schulabgängerin, Stadtstreicherin, Gelegenheitsprostituierte, Heroin-Abhängige hinter sich. Sie war süchtig danach, alle bürgerlichen Regeln zu missachten, auszubrechen aus der Enge, der Spießigkeit ihrer Umwelt, und alles, was verboten war, reizte sie maßlos. Fast hätte sie sich zu Tode gespritzt, kam dann in die Psychiatrie, machte schmerzhafte Entziehungskuren. Ihre Auflehnung und ihre Abstürze schrieb sie sich in atemlosen Büchern wie La, la, la und Candy von der Seele, die zunächst nur im Ausland erscheinen konnten, aber unter der Hand auch bald in Schanghai Verbreitung fanden. Das Leben als verzweifelte Selbstinszenierung in einem einzigen Rausch. So etwas hatte man aus der Volksrepublik noch nie gelesen. Gerne spielte Mian Mian fürs Publikum in der Lagerhaus-Disco die launische Subkultur-Diva, die rätselhafte Chronistin des Untergrunds. Legte Platten auf. Riss die Arme hoch. Dirigierte die Masse. Gab den Tanzrhythmus vor, Head-Shaking. Früher, sagte sie, hätten die Chinesen getanzt, als ob sie aufgezogene Puppen seien oder als ob sie kämpfen würden, Marionetten des Schattenboxens. »Jetzt haben wir gelernt, frei zu sein, individualistisch.« Sprach sie und tauchte wieder ein in die gleichförmige Masse aus Tänzern, von denen die meisten mit Ecstasy vollgepumpt schienen. Mian Mian hatte damals gerade einen Film abgedreht, Shanghai Panic hieß er und hatte es zu ihrem Kummer nicht durch die Zensur geschafft. »Es ist zum Kotzen mit den Typen.« Sie spielte sich nach ihrem eigenen Drehbuch selbst, die Geschichte handelte von Aids und Angst, Dollarmillionen und Drogen. Auch ihre Freunde hatte sie alle untergebracht: Casper, dem nach einer wilden Partynacht die Vorderzähne abhanden gekommen waren, wie auch immer, daran erinnerte sich keiner; und Coco, den schwulen Jazzsänger, undenkbar ohne Federboa. »Scheiße, haben wir um der Freiheit willen jede Art von Kontrolle über uns verloren?«, fragte er, und es war so etwas wie das Motto von Shanghai Panic .
Der Film gewann dann bei Kunstfestivals im Westen einige Preise, die Kritiken waren überwiegend freundlich, genau wie bei Mian Mians nächstem Buch mit dem schönen Titel Panda Sex . Aber es war damals schon klar, dass sich ihre Berühmtheit bald erschöpfen musste, zu eindimensional waren ihre Themen, zu wenig variabel letztlich ihre Sprache. Der Provokateurin passierte das Schlimmstmögliche: Sie geriet in den Mainstream. Sie wurde fast schon bürgerlich, ging – von Vogue und Cosmopolitan bezahlt –
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