Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
mehr zu Modenschauen als in Untergrundkneipen. Sie stand dann anschließend selbst Modell. »Schaff ich es auf den Titel?«, fragte sie beim Shooting für Harper’s Bazaar . Und sie bekam eine Tochter, die sie Prudence nannte, »Lebensweisheit«.
Aber die größte Umwälzung in der Kunst spielte sich beim Ballett ab. Und diese Revolution war mit einem einzigen Namen verbunden: Jin Xing, die über die Jahre zu einer guten Freundin wurde. 2006 posierte sie für mich vor dem Grand Theatre in Schanghais Stadtmitte am Platz des Volkes, selbstbewusst im körperbetonten roten Rollkragenpulli und in lässigen schwarzen Jeans. Ein überlebensgroßes Plakat mit ihrem Konterfei, grell geschminkt als westöstliches Zwitterwesen, kündigte ihren neuen Auftritt an, als Primaballerina in einer von ihr choreografierten Ballettversion der Orff’schen Carmina Burana . Im Hintergrund blitzten die schwungvollen Formen der Oper aus Chrom und Glas, eine architektonische Interpretation des klassischen China. »Das Rechteck steht für die Erde, das Rund für den Himmel – so sind Yan und Yan, das Kalte und das Heiße, das Weibliche und das Männliche in perfektem Zusammenspiel«, erklärte die Diva. Und seufzte: »Wenn es doch diese Harmonie auch in meinem Leben gegeben hätte!«
Jin Xing ist nicht sonderlich religiös, doch dass es einen Gott gibt, stand für sie immer außer Frage. Nur, was hat er sich dabei gedacht, sie damals, bei ihrer Geburt, so »falsch« zu schaffen, sie in einen fremden Körper zu pressen, so vollkommen unvollkommen? Pas de deux zwischen allen Polen: Sie ist eine parteigeduldete Revoluzzerin, eine privat organisierte Staatskünstlerin, eine Avantgardistin mit Sinn für Mainstream – sie achtet darauf, in keine Schublade zu passen. Jin Xing ist einmalig. Das liegt auch daran, dass die damals »wahrscheinlich beste Tänzerin der Welt« ( Die Zeit ) eine ganz und gar ungewöhnliche Lebensgeschichte hat. Die Begnadete war nämlich bis 1995 noch ein Mann. Präziser gesagt: ein Offizier der Befreiungsarmee. »Seit Längerem fungiere ich nun schon als Aushängeschild, aber auch als Alibi der Partei«, sagte mir Jin Xing einmal mit einem ironischen Lächeln in der Opern-Cafeteria. »Wenn ein ausländischer Politiker von den Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik, von den Hinrichtungsrekorden oder von der kulturellen Zerstörung Tibets spricht, dann antworten unsere Leute: Ja, aber wir haben einen transsexuellen Oberst, dem wir die Geschlechtsumwandlung erlaubt haben und der jetzt als Startänzerin auftritt …«
Das Kind wird im Jahr des Drachen geboren, am 3. August 1967. Die Eltern geben dem Kleinen einen poetischen Namen: Jin Xing, »Goldener Stern«. Sie sind froh, dass es ein Junge ist, ein Mädchen haben sie schon. Politisch sind die Eltern wegen ihrer koreanischen Wurzeln verdächtig. Zu Jins schlimmen Kindheitserinnerungen gehören die endlosen und demütigenden Verhöre ihrer Mutter durch die Roten Garden. Der Junge sieht mit sechs seinen ersten Tanzfilm und wünscht sich ein Ballettkostüm. Das tun die Eltern als kindliche Marotte ab. Als der kleine »Goldene Stern« dann aber mit neun in den Hungerstreik tritt, weil er damit den Besuch einer Ballettschule erzwingen will, ahnen sie, dass die Begeisterung ihres Sohns für Pirouetten mehr ist als eine Laune. Sie wollen einen »richtigen« Jungen aus ihm machen. Viel Streit, viel Tränen, doch am Ende kommt es zu einem Kompromiss: Jin Xing tritt in die Tanzkompanie der Armee ein; die VBA hat damals, als es auf Geheiß der mächtigen Mao-Gattin nur eine Handvoll revolutionärer Opern zu spielen gilt, die beste aller Balletttruppen. Jin fühlt sich wie ein Operettensoldat, die Uniformen sind viel zu groß, das Gewehr überragt ihn, die Handgranaten gleiten ihm durch die Finger. Doch jenseits der militärischen Grundausbildung glänzt der Junge. Keiner tanzt die Hauptrolle im Revolutionsstück Der gefleckte Hirsch so hingebungsvoll und virtuos. Mit 17 gewinnt er seinen ersten nationalen Ballettpreis. Jin Xing gibt sich dabei männlich, weil das von ihm erwartet wird. Doch in seinem Körper regen sich längst andere, weibliche Gefühle. Noch unterdrückt er sie. Spielt in einem militärgesponserten Actionfilm den Motorrad fahrenden Helden, ohne sich vom Stuntman doubeln zu lassen. Aber heimlich träumt er davon, eine Sie zu sein; die Actionheldin, die Tanzkönigin, die Primaballerina.
Der Anpassungsfähige wird schnell befördert. Er ordnet alles seiner
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