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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Karriere unter, auch seine Selbstachtung. Als sich ein schmieriger Vorgesetzter an ihn heranmachen will, weil er in dem blendend aussehenden »weiblichen« Jüngling einen Schwulen vermutet, lässt Jin ihn nicht nur abblitzen. Er erpresst ihn dazu, ihm ein Auslandsvisum zu verschaffen. Jin kann nach New York reisen, man erkennt dort gleich seine Begabung. Mit einem Stipendium studiert er Modern Dance und lernt, dass nicht nur Virtuosität zählt, sondern auch die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks. Bei seinem ersten großen Auftritt gibt es stehende Ovationen. Er will sich keinem Tanzensemble unterordnen, immer weiter experimentieren: Als das Geld knapp wird, jobbt er abends in Bars. Jin Xing setzt sich durch, bekommt ehrenvolle Aufträge als Choreograf und Tänzer in Rom und Brüssel. Sein Ziel bleibt Schanghai.
    Die eine Seite seines Lebenstraums, die Sucht nach künstlerischer Perfektion, die Gier nach öffentlicher Anerkennung, beginnt sich zu erfüllen. Doch jenseits der Berufskarriere ist da noch etwas anderes, und das wird immer lebenszentraler: seine Frauwerdung. Jin zieht Erkundigungen über eine Geschlechtsumwandlung ein. Er fährt nach China zurück und bespricht die Operation mit seinen Eltern; sie raten ihm dringend ab. Aber erstaunlicherweise stimmen die chinesischen staatlichen Stellen, die er um Genehmigung bittet, nach längerem Zögern zu. Mitte der Neunzigerjahre möchte sich die KP einen liberalen Anstrich geben, und Jin versäumt nicht, auf die patriotischen Aspekte seiner Tat hinzuweisen: »Ich habe darauf verzichtet, mich im Ausland operieren zu lassen. Nirgendwo anders als in China kann meine Wiedergeburt stattfinden.«
    Und so geschah es. Dreimal wird der damals 27-Jährige operiert. Nach Komplikationen sitzt die neue Sie drei Monate im Rollstuhl. Aber Jin Xing ist glücklich, lernt mit ungeheurer Disziplin die Fußspitzen wieder zu bewegen, gewinnt nach und nach körperliche Kraft zurück. »Was will eine kranke Transsexuelle auf unseren Bühnen?«, fragt ein bösartiger Zeitungskolumnist. Aber andere Journalisten und sogar KP -Funktionäre verteidigen sie. Und sie ergreift die Initiative, macht ihre Geschichte öffentlich. Nimmt Jobs als Model und Werbefigur an, saust mit ihrem giftgrünen VW Käfer von Termin zu Termin, von Party zu Party. Immer mit superkurzen Röcken, hochhackigen Pumps, gewagten Ausschnitten: eine Attraktion für sich und andere. »Ich hatte Lust, auf Vampir zu machen – jetzt, da das kleine Versehen Gottes korrigiert war«, vertraute sie mir an.
    Ihre Ballettinszenierungen werden extravaganter, technisch anspruchsvoller, lasziver. Die Kritiker liegen ihr zu Füßen. »Ein Stern ist geboren«, schreiben sogar die Parteizeitungen. Doch ganz so glatt geht es dann doch nicht mit der goldenen Zukunft und dem Verhältnis zur großen Politik. Zwar erlaubt ihr die Partei die Gründung eines eigenen Tanzensembles. Doch mit ihrem Jin Xing Dance Theatre gerät sie immer wieder in Konflikt mit den lokalen Offiziellen. »Ich bin doch nicht eure sozialistische Tanzmaschine«, schleudert sie den Funktionären mit ihrer Schmirgelpapierstimme entgegen, die immer so klingt, als wollte sie sich in einem Stadion an die Massen wenden oder einen Parteitag eröffnen. Sie darf dann ihre umstrittene Carmina-Burana -Inszenierung 2005 in Schanghai zeigen. Aber nur einen einzigen Abend. Dann zieht sie mit dem Stück weiter nach Paris. »Dort waren wir für Monate ausverkauft«, berichtet sie später stolz. Mit ihrem Programm Shanghai Tango feiert sie rauschende Erfolge in Venedig, Stockholm und New York. Ein bisschen ruhiger ist die Umtriebige dann doch geworden. Sie widmete sich der Ausbildung junger Tanztalente. Sie kaufte sich ein schönes altes Haus in Schanghai, heiratete einen Deutschen, adoptierte drei kleine Waisenkinder. »Mein wildes Leben als Femme fatale habe ich weitgehend aufgegeben, ich kümmere mich lieber um Gutenachtlieder für die Kleinen«, sagt sie.
    Ende des vergangenen Jahrzehnts begannen sich aber auch in der Politik die Dinge graduell zu verändern – es schien sich eine vorsichtige Öffnung anzudeuten. Und wie so häufig in China hatte sie ihren Ursprung im Bereich der Wirtschaft. China Executive Leadership Academy hieß die neue chinesische Kaderschmiede und wo anders sollte sie stehen als im »Kopf des Drachen«, in Schanghai, genauer gesagt im Zukunftsviertel Pudong. Das Gelände wirkte auf den ersten Blick wie der Campus einer amerikanischen Luxus-Universität,

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