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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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verschwunden waren. Sie wechselten Treffpunkte, tauschten im letzten Moment Taxis, wählten Hinterhöfe und nächtliche Zeiten für unsere Treffen. Als sie Vertrauen gefasst hatten, brachten sie mich dann mit mehreren Untergrundkämpfern zusammen. Es waren ernsthafte, junge Leute, ob der Repression im Land empörte Intellektuelle, von denen die wenigsten Waffen hatten und für einen Kampf um die Macht prädestiniert schienen. Und sie machten mich mit Gilberto bekannt, dem Folteropfer.
    Wir trafen uns um zwei Uhr morgens am Rand eines Slums, der sich Cantagalo nannte, »Hahnenschrei«, und in den Bergen lag. Man konnte von dort aus die Lichter von Ipanema sehen, dem verbarrikadierten Viertel der Reichen und Mächtigen. Es wirkte zum Greifen nah. Aber die Favela auf dem Hügel war eine ganz andere Welt, wie meine Freunde sagten, von Drogenbossen kontrolliert und eigentlich nachts keine Zone, in der man sich aufhalten konnte. Schwer zu sagen, wer für uns die schlimmere Gefahr war: die schießwütigen Kriminellen oder die schwer bewaffneten Militärpatrouillen. Gilberto und seine Freunde aber hatten schon so viel Schlimmes erlebt, dass sie sich längst einen Panzer aus Fatalismus und Zynismus angeeignet hatten. Mörderische Favela – na und? Das ganze Land war mörderisch. Die Rebellen trafen ihre Vorsichtsmaßnahmen, sie wollten ihren Untergang weiß Gott nicht provozieren. Aber sie wussten, die Verhaftung, die Folter oder irgendein anderes grausames Schicksal konnte sie jederzeit und überall ereilen. Und jenseits krimineller Gangs und krimineller Polizei: Die Todesschwadronen, von der Armee eingesetzte Sondereinheiten zur »Oppositionsbekämpfung«, lauerten überall.
    Gilberto war 22, Sohn aus gut situiertem Hause, Jurastudent. »Ich habe mich bis vor zwei Jahren nur für Mädchen, Musik und Fußball interessiert«, sagte er mit seiner leisen, rauchigen Stimme. »Aber dann habe ich erlebt, wie sie an der Uni meine Kommilitonen drangsalierten. Wer Flugblätter gegen das Regime verteilte, wurde sofort verhaftet. Manche kamen dann erst nach Monaten wieder, sie waren schlimm zugerichtet, gebrochen. Da wusste ich, dass ich mich dem Widerstand anschließen musste.« Er ging zu den Maoisten, den einzigen, die seiner Meinung nach »konkrete Vorstellungen« von Veränderung hatten. Ja, er befürworte grundsätzlich den bewaffneten Kampf, sagte er. »Aber ich habe nie jemanden erschossen.« Sie hatten ihn verhaftet, vermutlich war er von einem Kommilitonen, den er anwerben wollte, verraten worden. Sie drückten brennende Zigaretten auf seinem Rücken aus, hängten ihn an die Decke, quälten ihn nächtelang mit grellem Lichtstrahl. Gilberto zog das Hemd hoch, zeigte die Narben. »Aber ich habe ihnen keine Namen von meinen Mitstreitern gegeben.« Nach drei Monaten ließen sie ihn frei. Er tauchte sofort unter. »Jetzt bin ich bereit, die Militärs anzugreifen, auch Attentate zu verüben. Ich glaube, nur so können wir die Diktatur stürzen.« Zum Abschied drückte er fest meine Hand und antwortete lapidar auf eine nicht gestellte Frage: »Ich weiß, dass es mich das Leben kosten könnte. Aber das ist es wert.«
    Dann verschwand Gilberto lautlos in die Nacht, so unauffällig, wie er gekommen war. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Seine Freunde schenkten mir damals als Souvenir eine kleine Nationalflagge. Das Grün, erklärten sie mir, symbolisiere die Urwälder und fruchtbaren Felder des Landes; die gelbe Raute stünde für das Gold und die übrigen Bodenschätze, der blaue Bereich zeige den Sternenhimmel über Rio. Das portugiesische Motto »Ordem e Progresso« aber, das in einem Schriftzug über das Blau gelegt ist, hatten sie leicht abgeändert, mit neuen, verwandten, und wie sie fanden, weit zutreffenderen Begriffen versehen. Nicht für »Ordnung und Fortschritt« stünde ihre Heimat, sondern für »Chaos und Rückständigkeit«. Ich versenkte das subversive Geschenk in den Tiefen meines Koffers. Und wanderte dann, hin- und hergerissen zwischen den auf Hochglanz polierten Boutiquen für die Reichen an den Strandboulevards und den Heerscharen von Bettlern und Zerlumpten durch die Nebenstraßen. Ja, die Dynamik Rios war deutlich zu spüren, dieses Bestreben der hart arbeitenden Mittelklasse, trotz allem, das beste aus den Verhältnissen zu machen. Aber eben auch die Depression.
    1985 kehrte die Demokratie nach Brasilien zurück, nach mehr als zwei Jahrzehnten Militärdiktatur. Die autoritären Herrscher wurden nicht durch die

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