Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Gewissen. Curió hat sich zu ihr umgedreht, sie hat seinem Blick standgehalten. Er lächelte nur spöttisch, sagte kein Wort. Zurück in ihrem Büro hat sie erst gemerkt, wie sie am ganzen Körper zitterte. Aber sie war stolz darauf, wieder einmal eine Zwischenetappe auf ihrem ganz persönlichen Weg zur Wahrheit, zum Vermächtnis ihrer Verwandten, gefunden zu haben.
»Es scheint, als seien in Brasilien nun endlich neue Zeiten angebrochen«, sagt Victória Grabois heute.
Rio de Janeiro 2013: Das ist weit mehr als Vergangenheitsbewältigung. Das soll nach dem Willen der Stadtverantwortlichen für Aufbruchstimmung stehen. Soll eine glanzvolle Zukunft mit Ereignissen der Sonderklasse verheißen. Soll versprechen: Unsere Metropole wird bald ganz im Mittelpunkt des weltweiten Interesses stehen – und dafür bereit sein, Herz und Seele der südlichen Hemisphäre zu werden. Fußballweltmeisterschaft 2014, Olympische Spiele 2016: Noch nie in der Geschichte hatte eine Stadt in so kurzer Zeit ein solches Programm. »Die Sport-Kapitale der Erde«, lautet der Titel der neuesten Werbebroschüre, »Rio de Janeiro – Goldenes Zeitalter 2.0«. Und die PR -Dichter sparen nicht an Superlativen und Versprechen. »Die Stadt lebt in einer neuen Ära, gekennzeichnet von Hoffnung, Wohlstand und Nachhaltigkeit. Jahrzehntelang haben wir in einer Wartestellung verharrt und von unserem ikonischen Status als Heimat der großartigsten Szenerie und der freundlichsten Menschen der Welt gelebt. Jetzt haben wir uns zusammengerissen und tun alles, um ein wahrer Global Player in Sachen internationaler Politik, Sport, Business, Kultur, Design und Tourismus zu werden. Wir haben mit einer umfassenden Strategie begonnen, die uns über die gegenwärtige Renaissance der Stadt in die Zukunft hinausträgt und ein Vermächtnis schafft für die verbesserte Lebensqualität aller Bürger Rio de Janeiros. Wir schreiben neue Geschichten – und Geschichte. Willkommen in Rio de Janeiro, der wunderbarsten Stadt, der Stadt auf dem Sprung!«
Womöglich auf dem Sprung ins Chaos? Diesen Eindruck konnte man zumindest Mitte Juni 2013 bei den Demonstrationen während des Confed Cup gewinnen, der Generalprobe zur Fußballweltmeisterschaft.
Es waren die größten Massenproteste seit über zwei Jahrzehnten, und sie verbreiteten sich im ganzen Land wie ein Lauffeuer. Neben São Paulo und Brasília wurde Rio de Janeiro eines der Zentren der Kundgebungen. Vor einem der Länderspiele im Maracanã-Stadion zogen mehr als 200000 Cariocas durch die Straßen: Alte Männer in gestärkten weißen Hemden marschierten neben jungen Wilden in kurzen Hosen und T-Shirts, Schülerinnen neben Großmüttern. Aber in der Mehrzahl waren nicht die Allerärmsten aus den Favelas, sondern die Mitglieder der alten und neuen Mittelschicht, die Intellektuellen. Auf ihren Protestplakaten prangerten sie die Korruption der Mächtigen an, den miserablen Zustand der meisten Krankenhäuser, Schulen und öffentlichen Verkehrsmittel. »Ich liebe Fußball, aber ich hasse Vetternwirtschaft!« stand auf einem der selbst gemalten Schilder. »Entschuldigt bitte die Störung, wir krempeln gerade Brasilien um!« auf einem anderen. In den ersten Tagen der Sommer-Demonstrationen reagierte die Militärpolizei brutal, schoss mit Gummigeschossen in die Menge, versprühte Tränengas. Wohl auf Wink von oben ließ sie dann die Demonstranten weitgehend gewähren. Den Ausgangspunkt der Proteste – Fahrpreiserhöhungen bei den städtischen Bussen und U-Bahnen von zwanzig Centavos (etwa sieben Cent) – hatten da die meisten schon vergessen, und folglich beeindruckte die Ankündigungen des Bürgermeisters, sie wieder zurückzunehmen, niemanden besonders. Die Anspannung blieb.
Wie berechtigt ist also Rios Gegenwartsselbstlob, wie angemessen der Zukunftsoptimismus? Ist die problematische Schöne wirklich so gut vorbereitet, schon reif für ihre großen internationalen Auftritte – oder haben die Demonstranten recht?
Ich bin zurückgefahren in die Favela, in der ich 1974 den jungen Revolutionär getroffen habe. Eine Zeitreise zum »Hahnenschrei«. »Damals war es wirklich ganz schlimm. Aber ehrlich gesagt hat sich auch unter den demokratischen Regierungen hier bei uns im Armenviertel lange, sehr lange nichts gebessert«, sagt der Busfahrer Luiz Bezerra. »Es ist erst einige Monate her, da standen hier an jeder Straßenecke Gangster mit ihren Pumpguns, rücksichtslose Dealer, die mit Crack handelten, im Drogenrausch junge
Weitere Kostenlose Bücher