Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Untergrundkämpfer gestürzt, die waren längst umgebracht oder aufgerieben worden. Sondern durch einen evolutionären Prozess, der in einigermaßen freie und faire Wahlen mündete. Ein Gesetz hatte da schon alle Taten der Militärs nachträglich amnestiert, das tragische Schicksal der vermissten oder getöteten Aufständischen blieb lange tabu. Selbst in den beiden Amtszeiten des linksliberalen Staatspräsidenten Lula da Silva, der als überzeugter Gewerkschaftsvertreter während der bleiernen Jahre auch einmal monatelang im Gefängnis gesessen hatte, wurde das Thema verdrängt. Erst die Ex-Guerillera Dilma Rousseff, seit dem 1. Januar 2011 an der Macht, wagte sich an das heikle Thema der Vergangenheitsbewältigung. Sie berief eine Wahrheitskommission nach südafrikanischem Vorbild ein und wurde Ehrenvorsitzende von Bürgerrechtsvereinen. Brasiliens ebenso resolute wie pragmatische Präsidentin, selbst im Gefängnis Opfer schlimmer Übergriffe, getraute sich allerdings nicht, das Amnestiegesetz von 1979 aufzuheben, wie es der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ausdrücklich gefordert hat – zu viele Mächtige haben in diesem Land offensichtlich noch zu viele Leichen im Keller.
Victória Grabois, Präsidentin des Vereins Tortura Nunca Mais (»Nie mehr Folter«) hat deshalb zu Rousseff ein gespaltenes Verhältnis. Was jetzt passiert, hält sie noch für zu wenig, obwohl sie sich der Präsidentin nahe fühlt. »Wir müssen mutiger gegen die Täter vorgehen, die Suche nach den Vermissten intensiver betreiben. Uns läuft die Zeit davon«, sagt sie voller Kampfesmut bei meinem Besuch im kleinen Büro der Organisation im Herbst 2012. Die Alten, glaubt sie, verdrängten noch immer die Schatten der Vergangenheit. Die Jungen lebten nur im Hier und Jetzt, mehr als 80 Prozent wüssten nach einer neuen Umfrage nicht einmal von den schlimmen Notstandsgesetzen, unter denen die Militärschergen damals so brutal und rücksichtslos operiert hätten.
Die Wand des Büros ist von oben bis unten zugepflastert mit vergrößerten Passfotos. Victória Grabois quält sich aus ihrem Sessel, weißhaarig, drahtig, trotz aller Schicksalsschläge nicht gramgebeugt, eine würdige Dame Ende sechzig. »Das hier links ist mein Mann. Er verschwand 1972 mit seinem Vater, sein Bild ist das daneben. Und dann ist da noch mein Bruder, ebenfalls Guerillero, ebenfalls desaparecido .« Sie sagt absichtlich »vermisst« und nicht »tot«, obwohl sie weiß, dass es längst keine Hoffnung mehr für ihre Lieben gibt. Aber sie will genau wissen, was geschehen ist, will die Leichen bestatten, die Täter bestraft sehen.
»Die Männer sind damals in den Untergrundkrieg Richtung Araguaia im Amazonas-Gebiet gezogen«, sagt Victória Grabois, »und dort wurden sie, nach allem was man weiß, auch hingerichtet. Ich selbst wäre beim bewaffneten Kampf unserer maoistischen Guerilla gegen die Militärs dabei gewesen, wenn mich die Führung der Bewegung damals gelassen hätte. Aber ich war schwanger und durfte nicht.« So lange ist das alles schon her, mehr als vier Jahrzehnte. Und ihr doch noch so präsent, als wäre es gerade gestern gewesen. Sie muss diese Sache zu Ende bringen, die große Politik nerven, die Justiz anstacheln, bei den Journalisten unbequem sein. Das gibt ihr Kraft, ein Ziel. Nur das hält sie am Leben.
Victória Grabois ist sicher, dass es noch alte Akten gibt, die bis heute zurückgehalten werden. Dass Spuren existieren, die noch nicht verwischt werden konnten, Augenzeugen, Mitschuldige. Gemeinsam mit den anderen aus der Anti-Folter-Gruppe hat sie schon in den Achtzigerjahren begonnen, bei privat zusammengestellten Expeditionen eigene Recherchen durchzuführen. Die Privatdetektive in eigener Sache konnten sogar einige Fälle mithilfe von aufgefundenen und identifizierten Knochenresten klären. Victória Grabois bereitet gerade eine neue Reise in den Dschungel vor. »Es gibt da eine vielversprechende Aussage …«
Nein, von meinem damaligen Interviewpartner Gilberto hat sie nie etwas gehört. »Vielleicht benutzte er einen Tarnnamen? Kennen Sie Verwandte? Soll ich ihn auf meine Liste nehmen?« Aber von einem gespenstischen Treffen weiß sie zu erzählen. Dem Ex-Major Curió alias Sebastião Rodrigues de Moura soll jetzt als erstem mutmaßlich Verantwortlichen für die Massaker der Prozess gemacht werden. Sie war bei einer Vorverhandlung gegen den Mann, von dem sie vermutet, er habe ihren Mann und ihren Vater persönlich auf dem
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