Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
lasziv den Kokosnusssaft aus der aufgeschlagenen Frucht in den Mund träufeln. Und dann geht die Sonne in einem spätnachmittäglichen Spektakel unter, nach einem Drehbuch, das kein Regisseur, kein Postkarten-Gestalter eindrucksvoller hätte entwerfen können. Orangefarben, glutrot, mit Nuancen von Rosa bis Violett. Fast unwirklich. Als der letzte Strahl übers Meer fällt, geschieht etwas Sonderbares: Die Cariocas, wie sich die Einwohner von Rio de Janeiro nennen, halten einen Moment inne, stellen alles, was sie in der Hand halten, zur Seite. Und sie klatschen. Nicht laut, aber intensiv. Andächtig fast. Als wollten sie sagen: Tolle Inszenierung, Gott, weiter so.
Das passiert etwa an 300 Tagen im Jahr, immer dann, wenn Er es wettermäßig so richtet. Und es geschieht fast immer hier, nur hier. Ich habe meine Freunde gefragt, keiner wusste, warum gerade an der Praia Arpoadar Beifall gespendet wird. Die anderen Sonnenuntergänge, an den insgesamt über dreißig Kilometer reichenden Stadtstränden von Leme bis Leblon, von São Conrado über Barra da Tijuca bis Grumari, sind doch praktisch genauso eindrucksvoll. Alle zuckten mit den Schultern. Es ist offenbar eine Tradition, die keinen Ursprung kennt. 1974, während der Militärdiktatur, als ich das erste Mal in Brasilien war, klatschten hier die Leute, bei meinem letzten Trip vor einigen Wochen ebenso. Eine Konstante in Rio, unabhängig von den politischen, wirtschaftlichen oder privaten Sorgen. Eine Hommage der Bürger an ihre Stadt, an die »Cidade Marvilhosa«, wie ihr Beiname lautet – die Wunderbare.
Es sind ja nicht nur die Strände, sondern auch der Zuckerhut, Corcovado mit Christusstatue, die Altstadt Santa Teresa mit ihren Villen, die goldene Höhle der Franziskanerkirche Penitência im Zentrum. Und wenn schon die Einheimischen begeistert sind, so gilt das in noch viel stärkerem Maße für Neuankömmlinge, die bei all diesen Wundern kaum aus dem Staunen herauskommen. Stefan Zweig hat nach der Flucht aus Nazideutschland in höchsten Tönen von seiner Neu-Heimat geschwärmt, der Schriftsteller Ji ř í Hanzelka schrieb eine Elegie auf die Schönheit der Stadt. Vor allem der Zuckerhut, mit einer spektakulären Seilbahn zu erreichen, hat es dem Tschechen angetan: »Der Wächter über die Tore der Stadt und den Schoß des Meeres, der ureigenste Berg Rio de Janeiros. Ein Leuchtturm, auf dem man weder das Kreischen der Bremsen noch den Lärm der Orchester, noch das Weinen der Kinder hört. Eine Insel, nahe genug, um den Atem der Großstadt spüren zu lassen, und weit genug, um ihrem romantischen Zauber zu erliegen.« Nur wenige Kilometer weiter bringt eine Zahnradbahn, die durch einen grünen Dschungel mitten in der Großstadt auf 709 Meter Höhe führt, täglich mehr als fünftausend Menschen zu dem anderen Aussichtspunkt der Stadt, zum Corcovado (»der Bucklige«). Dort breitet ein monumentaler Christus die Arme aus, die Figur wurde im Jahr 1922 errichtet, zur Hundertjahrfeier der brasilianischen Unabhängigkeit. Tagsüber wirkt der Erlöser erdverbunden, scheint die Stadt und ihre Menschen zu beschützen. Nachts, im strahlenden Glanz des Lichts, macht es den Eindruck, als wolle er über Rio schweben und uns alle umarmen.
Meine ersten Eindrücke von Brasilien waren allerdings bestenfalls gemischt. Es war in den Jahren der bleiernen Zeit, in den frühen Siebzigern, als ich Rio kennenlernte. Der Passbeamte musterte mich misstrauisch, der Zöllner filzte mich gründlich, fragte nach Beruf und »Auftrag« – sie hielten offensichtlich jeden für einen potenziellen Feind, für einen möglichen Helfer der Untergrundkämpfer. Überall im Flughafengebäude waren überdimensionale »Wanted«-Poster aufgehängt, mit den Gesichtern tatsächlicher oder vermeintlicher Terroristen. Und als ich dann in die Stadt fuhr, fielen mir sofort die bewaffneten Polizeipatrouillen auf, die an jeder strategischen Straßenkreuzung postiert waren. Ich war überrascht. Zwar wusste ich, dass Rio nicht dieses Samba-Maracanã-Ipanema-Idyll war, welches mir die Botschaft in Bonn und einige der in Deutschland ansässigen Industriekapitäne hatten vorgaukeln wollen. Aber die brasilianische Militärherrschaft galt damals in Europa, verglichen mit den diktatorischen Regimen in Chile und Argentinien, als verhältnismäßig mild.
Schon bald sollte ich erfahren, was für einem Irrtum ich da erlegen war. Journalisten erzählten mir von der umfassenden Zensur und den Kollegen, die über Nacht
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