Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Utopie, die mal schrecklich, mal schön ist, und häufig beides gemeinsam. Ein Raum mit einem 360 Grad runden Bildschirm lässt noch einmal visuell die Weltausstellung vor den Augen des Betrachters passieren und lässt ihn dann im wahrsten Sinn des Wortes durch die Zukunft Schanghais fliegen. Es ist eine durchgestylte, ziemlich grüne, auf jeden Fall aber slumfreie schöne Neue Welt, vielfach überdacht, immer überwacht. Die Planung mag seelenlos wirken, aber verglichen mit dem Chaos von Mumbai und den eher selektiven Favela-Verbesserungen in Rio dürften sie Inder und Brasilianer für einen Fortschritt halten.
Höhepunkt des Exhibition Center ist ein begehbares Riesenmodell von Schanghai. Es wird im Zwölfmonatstakt der Wirklichkeit angepasst, um wenigstens annähernd Schritt zu halten mit den tatsächlichen Veränderungen.
Von einer kleinen Brücke blickt man auf eine urbane Landschaft, in der die Viertel mit den alten, niedrigen Häusern herausstechen wie kleine Inseln im Wolkenkratzer-Meer. Elf Satellitenstädte sind vorgesehen, sie werden sich wie ein Ring um das Zentrum schließen. »Noch 1994 galt Schanghai als die chinesische Megacity mit den wenigsten Grünflächen pro Einwohner. Wir hatten damals die falschen Prioritäten«, erläutert Professor Wu Jiang, der langjährige Stadtplanungschef. »Heute gehören wir, was Parkanlagen angeht, zu der positiven Spitzengruppe unter Chinas Metropolen.« Natürlich sei noch nicht alles optimal in Schanghai, setzt er großzügig hinzu. »Wir müssen die Innenstadt entlasten, und das heißt auch einwohnermäßig entschlacken. Und vor allem den Verkehr müssen wir im Rahmen halten.« Viel sei durch den Ausbau der U-Bahn, die allgegenwärtigen Überführungsstraßen schon geschehen, trotzdem sei die PKW -Dichte viel zu hoch. Deshalb würden die Schanghaier entmutigt, sich Autos anzuschaffen, indem sie eine saftige Anmeldegebühr bezahlen müssten, bevor ihnen Nummernschilder ausgehändigt würden. Sie beläuft sich derzeit auf umgerechnet gut 4000 Euro – die Hälfte des Kaufpreises für einen Kleinwagen. Aber die Strafgebühr hilft wenig, das weiß auch der Stadtplaner. Und natürlich seien auch die sehr hohen Immobilienpreise ein großes Problem. »Wir müssen es wieder möglich machen, dass sich junge Leute eine kleine eigene Wohnung kaufen können«, sagt Wu. Wie genau das gehen soll, weiß er auch nicht. Er weiß nur, dass er weiß, wie alles in dieser Stadt eigentlich sein sollte. Er ist Parteimitglied – da gehört der Glaube an die wohltätige Bevormundung zur Grundvoraussetzung. Dass eine Stadt einen bestimmten Charakter braucht, ihr eigenes Flair, das hält er für kitschigen Humbug. Funktionieren soll sie.
Wie weit in Schanghai Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen können, zeigt sich im Februar 2013. An fast jedem dritten Tag liegt die Luftverschmutzung über den international zulässigen Werten, zum Teil weit über das Zehnfache (und damit fast so schlimm wie in Peking). Dazu kommt einen Monat später noch ein handfester Umweltskandal: Im Huangpu, der Schanghai mit Trinkwasser versorgt, treiben mehr als zehntausend tote Schweinekadaver. Sie stammen von Zuchtbetrieben, die flussaufwärts in der Nähe der Stadt Jiaxing liegen. Die Züchter haben die offensichtlich an einer Seuche erkrankten Tiere einfach auf diese Weise entsorgt. Erst als Blogger Bilder von den treibenden Kadavern ins Netz stellen (»Das ist unser Naturschutzgebiet!«), agiert die Polizei. Doch dem Problem Herr werden kann sie nicht über Nacht, im Trinkwasser werden Viren gefunden. Angeblich nur solche, die Menschen nicht schädigen können.
Der neue Bürgermeister Yang Xiong fühlt sich immerhin genötigt, mit einer Erklärung an die Öffentlichkeit zu treten. Er beruhigt alle Schanghaier, man werde die zentralen Fragen wie Umwelt und Nahrungsmittelsicherheit »mit aller Kraft angehen« und »Unzulänglichkeiten entschieden bekämpfen, das sind wir unseren Mitbürgern schuldig«.
Die Schanghaier sind einiges gewöhnt. Manchmal hat auch der Musiker »Peter« Zhang Junhao, ein Mann um die achtzig mit sehr präzisem Erinnerungsvermögen, dieses Déjà-vu-Gefühl in seiner Heimatstadt: Politiker tricksen. Prostituierte stellen sich ungeniert zur Schau, alles ist möglich und nur eine Preisfrage. Bettler drücken sich verschämt an Häuserwände. Amerikaner und Europäer feiern mit einheimischen Neureichen in sündhaft teuren Etablissements, Türsteher wimmeln »unpassende« Kunden
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