Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Frauen vergewaltigten und Konkurrenten zu Tode quälten. Jede Form öffentlicher Ordnung wurde von ihren Gewaltorgien erstickt, und für heranwachsende Männer gab es nur eine Karriere – die innerhalb einer Verbrecherbande.« Und dazwischen der Busfahrer, als einer von Hunderten panischen Familienvätern, mit seiner Frau, seinen beiden Töchtern und der bangen Frage: Was für Nachrichten erwarten mich, wenn ich mich die steilen, brüchigen Stufen vom Busdepot in Ipanema heraufquäle, wie überstehen wir die nächste Nacht?
Heute sind es kleine Alltagsträume statt nächtlicher Alpträume, um die sich das Leben von Luiz Bezerra dreht. »Sie finden das sicher wenig aufregend«, sagt der graumelierte Herr, weiße Hose, sorgfältig gebügeltes Hemd, in seinem winzigen Arbeitszimmer. Er sitzt an einem Computer, hinter ihm ist das Miniaturmodell einer Vorzeigewohnung für die Favela aufgebaut, mit Miniaturcouch, Toilette, Einbauküche: eine Puppenstube, die den Aufstieg in die Mittelklasse verspricht. »Langweilig? Sicher. Aber glauben Sie mir, Aufregung hatten wir hier in Cantagalo wirklich genug. Zum ersten Mal spüren wir einfachen Leute von Rio den Boom Brasiliens, schöpfen Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse. Und fast noch wichtiger: Sie fühlen sich nicht mehr wie all die letzten Jahre als lixo , als menschlicher Abfall, sondern haben ihre Würde wiedergewonnen.«
Der Mittsechziger, von den städtischen Verkehrsbetrieben pensioniert, wurde von den Slumbewohnern zum Chef des neuen Bürgervereins gewählt. Er betreut in Absprache mit der Stadtverwaltung und der Polizei die etwa 20000 Einwohner der Favela. Bezerra organisiert, dass sie ihre Abfälle sammeln und zu festgelegten Stellen bringen, den Plastikmüll aussondern und nicht mehr verbrennen. Hilft dabei, die meist illegal hochgezogenen Häuser zu registrieren und sie für den jetzt regelmäßig kommenden Briefträger mit Nummern zu erschließen. Mahnt seine Nachbarn – »mit noch geringem Erfolg«, wie er gesteht –, doch nicht die Stromleitungen anzuzapfen, sondern die städtischen Dienste regulär zu bezahlen. Nimmt Beschwerden über Diebstähle entgegen und hält mit der Gemeinde Beratungsstunden ab. Gewaltverbrechen sind in Cantagalo selten geworden. »Zwei Morde im vergangenen Jahr, so viele gab es früher hier oft in einer Nacht«, sagt Bezerra stolz, als hätte er den Banditen selbst die Waffen aus der Hand geschlagen. Wie ein Legoland aus wackligen, eng aneinander geschichteten Klötzchen liegt die Favela unter uns, am steilen Berghang wuchern die Behausungen. In die Form eines Amphitheaters gepresst, geeignet für Tragödien und Komödien zugleich.
Patrouillengang mit der Unidade de Polícia Pacificadora ( UPP ). Die Sondereinheit zur Slum-Befriedung hat Cantagalo unter Einsatz von massiver Gewalt erobert, ein halbes Dutzend Tote gab es bei dem Shootout. Sie hat die mächtigen Drogendealer vertrieben, die Gewehre und Pistolen eingesammelt. Keiner macht sich Illusionen, die Gangster werden sich irgendwo anders, vermutlich jenseits der Staatsgrenzen von Rio, neu gruppiert haben, neue Drogenkartelle aufziehen. Oder sich in anderen Geschäftszweigen wie dem illegalen Glücksspiel und der Prostitution engagieren. Aber in der Favela »Hahnenschrei« sorgt die Sondereinheit der Polizei mit ihrer 24-Stunden-Präsenz und permanenten Überwachungsgängen für Ruhe. Für eine angespannte Ruhe.
Immer noch ist in den engen Gassen mit den graffitibesprühten Wänden Misstrauen zu spüren. Viele verschwinden in ihren Hauseingängen, wenn sie die hünenhaften Männer in ihren Uniformen sehen, nur einige ältere Frauen grüßen verhalten, die Augen gesenkt. Die Ordnungshüter werden respektiert, nicht gemocht, Partner auf Bewährung sozusagen. Zu oft haben in der Vergangenheit korrupte Staatsbedienstete mit Gangstern paktiert, als dass man dem Frieden schon ganz trauen würde. »Polizisten haben bei Verbrechen zur Seite geschaut oder womöglich sogar Bestechungsgelder eingesteckt, als sich die Gangs bekriegten. Sie haben auch nichts unternommen, um die mikrowela zu stoppen, wie wir das absichtliche Niederbrennen von Häusern nannten«, erzählt uns ein Cantagalo-Bürger, der nicht mit seinem Namen genannt werden will. Die Uniformierten um den UPP -Captain Senna, der aussieht wie eine brasilianische Version des Hollywood-Stars Denzel Washington, wissen um diese Vorwürfe und Bedenken. Sie versuchen deshalb in diesen Tagen, Konflikte mit größtmöglicher
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