Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
freilaufende Kampfhunde achten. Aber vor allem soll sie die »Vorschriften zur Nahrungsmittelaufnahme« überwachen. Denn es ist nicht mehr erlaubt, am Wasser zu grillen, weder Krabben noch Fleisch noch Käsestückchen. Eine sehr einschneidende Maßnahme, da der Strand traditionell das Wohnzimmer der Cariocas ist; hier lernen sie als Kleinkinder krabbeln, hier üben sie als Heranwachsende flirten, hier testen sie ihre Begabung für Ballsport aller Art, hier spielen sie als ältere Herrschaften Schach, Karten oder Domino.
In Brasilien gibt es keinen Privatstrand – ob reich oder arm, ob weiß, mulatto oder schwarz, es spielt keine Rolle: Der Sand, die Wellen und das Meer, sie gehören allen, sie sind in einem in so viele Gruppen und Klassen und Religionen zerfallenden Staat der große demokratische Gleichmacher. Auch wenn es Abschnitte gibt, an denen sich hauptsächlich die Etablierten treffen – eine klare Abgrenzung wie bei den Wohngegenden gibt es beim Baden nicht. Copacabana ist nicht nur eine Verheißung von blauem Meer und weißem Strand, sondern auch der Inbegriff brasilianischer Lebensart, ein Versprechen vom Überwinden sozialer Unterschiede. Der Sehnsuchtsort schlechthin.
Strand hieß immer auch ein wenig Anarchie, man kam, man sah, man aß. Mitgebrachtes gelegentlich, aber viel häufiger das, was die fliegenden Händler anboten und auf ihre mitgebrachten Grills legten. Ja, es stimmte schon, manchmal war der Strand nach abendlichen Partys mit Essensresten übersät, man konnte über einen abgenagten Hühnerknochen stolpern oder über ein noch glühendes Stückchen Holzkohle, aber die meisten störte das nicht. Dann rief der Bürgermeister den »Sommer des Neins« aus, angelehnt an die Zero-Tolerance-Politik seiner amerikanischen Großstadt-Kollegen – und seither geht es allen an den Kragen, die Gegrilltes am Strand essen oder ihn sonst irgendwie verschmutzen. Selbst Kicken ist im Land der Fußballverrückten an der Praia jetzt nur mehr nach 17 Uhr erlaubt.
Ein bisschen albern wirkt die Organisationswut schon, wenn sie auch Sonnenschirme reglementiert: Erlaubt sind jetzt nur noch solche in den Einheitsfarben Rot, Blau und Gelb, Geblümtes geht nicht mehr. Eine »Feuerprobe für die libertinären Cariocas« nannte das die örtliche Presse. Aber der Bürgermeister blieb hart. Nur in einem Punkt gab er schließlich nach: Er hatte auch den Verkauf von Kokosnüssen am Strand verbieten lassen, weil deren große Schalen in keinen Papierkorb passten und die großen Messer, mit denen die Früchte geöffnet wurden, gefährlich werden könnten. Nun dürfen die Händler wieder, müssen aber dafür sorgen, dass der Abfall in einer der neu aufgestellten Mülltonnen entsorgt wird.
Eduardo Paes hat sich durchgesetzt, die Cariocas haben den Ordnungsschock überlebt – und die Maßnahmen nach der ersten Überraschung sogar gutgeheißen. Nach seiner ersten, knapp verlaufenen Wahl sprachen ihm die Bürger Ende 2012 mit über 65 Prozent der Stimmen ihr Vertrauen für eine zweite Amtszeit aus; damit wird Paes noch bis Ende 2016 im Amt sein, Fußball- WM und Olympische Spiele mitgestalten, und wenn er dann den obersten Posten der Stadt verlässt, gerade erst 46 Jahre alt sein. Ein Mann voller Widersprüche. Viermal hat er schon die Partei gewechselt, ein oft schmerzhaft nüchterner Ordnungsfanatiker, der selbst bei der in seiner Position obligatorischen Umarmung der Karnevalstänzerinnen seltsam förmlich bleibt. Und dem für politische Demonstrationen, wie sie im Juni 2013 die Stadt erschütterten, jedes Verständnis, jedes Gespür fehlt.
Auf nichts ist der Bürgermeister so stolz wie auf sein neues Kontrollzentrum. »Nicht einmal Schanghai hat so etwas, es ist das Modernste vom Modernsten«, sagt er. Nicht weit von der Copacabana entfernt erhebt sich der glasverspiegelte Klotz. Was schon von außen futuristisch anmutet, ist innen ein Stück Mission Control wie aus Star Wars . Männer in weißen Overalls überprüfen eine riesige Wand mit Bildschirmen, auf denen ständig neue Daten blinken – ein virtuelles Rio in Echtzeit. 560 Kameras, im gesamten Stadtgebiet installiert, liefern hochauflösende Bilder von Straßenkreuzungen, U-Bahn-Stationen, Marktplätzen, Stränden. Ein Wettersatellit füttert das Kontrollzentrum mit aktuellen Daten über Sturm-Entwicklungen. In den besonders kritischen Hanglagen von 66 Favelas hat die Stadtverwaltung Sirenenanlagen installiert, die rechtzeitig vor Gefahrensituationen warnen können
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