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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Zurückhaltung zu entschärfen.
    Sennas Vorbild ist gleichzeitig sein Boss. Von ihm spricht er in höchsten Tönen: José Mariano Beltrame. Wenn der Sicherheitschef der Stadt eine seiner Stippvisten in dem befriedeten Armenviertel macht, stehen er und seine Männer stramm. Dabei ist Beltrame keiner dieser harten Hunde, die allein durch ihr Auftreten oder ihre Stimmlage bei den Untergebenen Eindruck machen. Der Supercop stammt aus der Gaucho-Provinz Rio Grande do Sul. Er hat den singenden, weichen Akzent der Region, und sein sandfarbenes, konservativ geschnittenes Haar und das spießbürgerliche Outfit bis hin zur randlosen kleinen Brille passen eher zu einem Professor als zu einem Polizeichef. 2007 hat der Mann begonnen, die drogenbefallenen, kriminalitätsverpesteten Armenviertel zu »befrieden«; da war er noch in den Vierzigern, hatte Chancen auf Karrieren aller Art, und seine Freunde dachten, er sei lebensmüde. Beltrame war ein Außenseiter in Rio, keiner aus dem Old-Boys-Network, und das war wahrscheinlich seine Chance.
    Immer wieder gab es Rückschläge. Beispielsweise 2009, Rio war gerade zur Olympiastadt gekürt worden, schossen Gangster in einer spektakulären Aktion unmittelbar vor der Christusstatue einen Polizeihelikopter ab. Beltrame stellte sich gleich am nächsten Morgen der Presse, forderte von den Politikern mehr Gelder, bessere Waffen – und bekam, was er wollte. Inzwischen ist auch die riesige Favela so gut wie gangsterfrei, die Traficantes mit ihren Pumpguns und ihrem Stoff sind aus dem Straßenbild des Complexo de Alemao verschwunden. Eine einfache, aber funktionale Seilbahn verbindet inzwischen die Hügelteile des Armenviertels mit dem Hüttengewirr im Tal. Und zumindest im Ansatz wird das Slum-Problem auch an der Wurzel angefasst: In den Problemgegenden wurden über 150 neue Schulen eingerichtet, die besonderen Wert auf Unterricht in Kunst und Sport legen. Die neuen Favelas haben Vorbildfunktion für all die, die dachten, in Rio würde sich ja doch nie etwas ändern. Sie sind Inseln der Hoffnung, in denen nicht mehr das Gesetz des Dschungels herrscht. Sondern das Gesetz.
    Die Mordrate in Rio hat sich seit dem Beginn des Befriedungsprogramms in etwa halbiert; sie liegt aber immer noch höher als in jeder europäischen Großstadt. Die Veränderung in einigen der Favelas ist eindrucksvoll. Positiv betroffen ist aber erst ein Bruchteil der rund zwei Millionen Cariocas, die im Slum leben (von den fast sieben Millionen Einwohnern in Rio): nicht viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, als befriedet gilt noch nicht mal ein Zehntel der Favelas. »Wichtig ist nur eines: Es gibt keinen Weg zurück«, sagt José Mariano Beltrame. Auch er weiß, was für eine Herkules-Aufgabe noch vor ihm liegt. Beispielsweise in Sachen Kläranlagen: Es gibt kaum einen Slum, der über eine vernünftige Abwasserbeseitigung verfügt. Am Rande der an die Berghänge geklebten Hütten quillt die Kloake über, rostige Rohre führen die Brühe hinunter zum Strand, hinein ins Meer – was streng verboten ist und dennoch gängige Praxis.
    Überall in der Vorzeige-Favela Cantagalo haben jetzt Kioske aufgemacht, oft nur wenige Quadratmeter groß und bis zum Platzen mit Waren gefüllt. Von Getränken über Waschmittel bis zu Kaugummis und Kondomen wird alles für den täglichen Gebrauch angeboten. Die Kaufkraft ist stark angestiegen, seit das landesweite Bolsa Família-Programm greift. Bedürftige Mütter bekommen, je nach Einkommen und Kinderzahl, einen monatlichen Zuschuss von umgerechnet 15 bis 70 Euro – unter sorgfältig geprüften Bedingungen. So müssen sie ihre Kinder zur Schule schicken und sie regelmäßig impfen lassen. Die meisten Eltern halten sich daran. Sie haben begriffen, dass ihre Kinder ohne Bildung keine Chance haben. Und doch wissen alle, wie brüchig der Frieden ist. Erst Ende Mai 2013 wurde in der Favela Rocinha einem deutschen Touristen in den Bauch geschossen. Und die Anzahl der Vergewaltigungen in der Stadt steigt sogar wieder.
    Trotz mancher Fortschritte und der Verbesserung des Lebensstandards bleibt Rio eine der Weltstädte mit den gravierendsten und empörendsten Unterschieden zwischen Arm und Reich. Und die zeigen sich gerade zwischen den benachbarten Stadtteilen Ipanema (unten die Reichen) und Cantagalo (oben die Armen).
    Und die da unten wollen mit denen da oben in der Regel immer noch nichts zu tun haben, außer sie putzen die Wohnungen oder servieren in den Bars Getränke. Viele der

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