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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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weiter an Bedeutung: 1807 entschloss sich der portugiesische Hofstaat, vor einer drohenden Invasion Napoleons hierher zu flüchten – eine einmalige Konstellation, die Kolonialmacht wurde von der Kolonie aus regiert. Für die Entwicklung der Stadt war das ein Segen, denn die Aristokraten aus Europa wollten auf nichts verzichten und führten ihren Lebensstil in der neuen Welt fort. Das verlangte eine Ausweitung des Hafens, den Import von Luxusgütern wie den Zuzug von Bauherren und Künstlern. Rio wurde schick. Und innerhalb weniger Jahre entstanden Einrichtungen, die bis heute zu den Wahrzeichen der Stadt gehören: die Banco do Brasil, der Jardim Botânico, das Teatro São João. Unruhen in Lissabon zwangen dann den Regenten zur Rückkehr, doch sein Sohn Dom Pedro I. blieb in Rio. 1822 erklärte der Brasiliens Unabhängigkeit und ließ sich zum Kaiser krönen.
    Sein Nachfolger, der nach dem Tod des Vaters schon mit neun Jahren den Thron besteigen musste, brachte die Stadt in seinen Erwachsenenjahren weiter voran. Er ließ die ersten Straßenbahnen bauen, entwickelte einen Postdienst, ein Eisenbahnnetz entstand. Und Gipfel der Moderne: Rio bekam eine Straßenbeleuchtung. Auch als 1889 Brasilien nach einem Militärputsch Republik wurde, blieb Rio unangefochten Hauptstadt und Brasiliens Metropole der Moderne. Die Stadt hatte zum Beginn des 20. Jahrhunderts bereits eine halbe Million Einwohner, in der Belle Époque war sie Traumziel für Filmstars, Regisseure und Top-Musiker. Rio wurde – in Konkurrenz mit Schanghai am anderen Ende der Welt – zum Spielplatz der internationalen High Society, zahlreiche Nachtclubs und Casinos luden zum Zeitvertreib. 1924 eröffnete dann am Strand das Luxushotel Copacabana Palace, ein weiterer Magnet für Hollywood und Hautevolee (und bis heute erstes Haus am Platz). Zu den Besuchern gehörten Lana Turner, Josephine Baker, Maurice Chevalier und Eva Perón. Orson Welles feierte hier Anfang der Vierzigerjahre legendäre Partys und warf in einem Eifersuchtsanfall einmal Teile seines Suite-Inventars aus dem Fenster – lange bevor so etwas bei Rockstars Mode wurde.
    Als die verfolgten europäischen Schriftsteller aus den Kriegswirren des alten Kontinents zu fliehen begannen, etablierte sich Rio de Janeiro endgültig als ein kulturelles Weltzentrum. Durch Landaufschüttung gewann man Platz für Grünflächen wie den Flamengo-Park. Die Innenstadt erlebte eine positive architektonische Verwandlung, der starke Zuzug nach Rio führte dann auch zum baulichen Wildwuchs, zu einer Vielzahl von Favelas. Aber dem lässigen Lebensstil, den die Stadt zumindest für die Besucher ausstrahlte, tat das kaum Abbruch. Schuld daran war auch der Bossa nova, die neue hier in den frühen Fünfzigern erfundene Musikrichtung.
    Der Wendepunkt kam 1960, mit dem Projekt Brasília. Die Präsidenten Getúlio Vargas und Juscelino Kubitschek hatten den ehrgeizigen, seit 1891 in der Verfassung verankerten Plan einer neuen Hauptstadt vorangetrieben – sie sollte der Infrastruktur des Binnenlandes dienen und fernab der großen Metropolen liegen. Rio de Janeiro geriet in einen Abwärtssog. Natürlich hatte das nicht ausschließlich mit dem Bedeutungsverlust und dem brain drain Richtung Brasília zu tun. Auch als wichtigster Industriestandort wurde Rio durch das aktiv um Unternehmer werbende São Paulo abgelöst. Und dann kam ab 1964 die schreckliche Zeit der Militärdiktatur. Die herrschenden Generale glaubten in einem Anfall von Gigantomanie, das Zentrum Rios durch Wolkenkratzer »verschönern« zu müssen, für ein neues Verwaltungs- und Bankenzentrum mussten viele schöne alte Gebäude weichen. Die neuen Herrscher lösten Parteien auf, zensierten die Medien, verhafteten Gewerkschaftler. Sie feierten aber auch ökonomische Erfolge, unter ihrem harten Regime begann sich das Agrarland zur Industriemacht aufzuschwingen. Neben Kaffee und Zucker wurden Werkzeugmaschinen und Flugzeuge Exportschlager. Manche Industrielle und korrupte Offiziere wurden sehr reich, die Massen verarmten – das war die Zeit, als ich Rio und seine Repression aus eigener Anschauung kennenlernte.
    Nach dem Sieg der Demokratie 1985 atmete die Stadt auf. Doch wirtschaftlich folgten schwere Jahre, die »neue Republik« kämpfte vergeblich gegen den Verfall der Währung, die Inflation lag Anfang der Neunzigerjahre in Rio bei 1000 Prozent. Alles war knapp. Ein Bier bekam nur, wer eine der raren Pfandflaschen mitbringen konnte, die Regale der Supermärkte

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