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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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Älteren in den Nobelvierteln haben ihr Leben lang noch keinen Fuß in die Favela gesetzt. Bei den jungen Leuten beginnt sich das zu ändern. Sie machen wenigstens gelegentlich einen Ausflug in eines der neu entstandenen »exotischen« Billigrestaurants am Berg. Die Leute von Ipanema haben ihre Appartements, ihre Einkaufs- und Ausgehplätze alle nahe der vornehmen strandnahen Straßen der Zona Sul. Wenn es denn ein gesellschaftliches Experimentierfeld in Rio gibt, dann ist es Barra im Westen, wo sich der arme Nord- und der wohlhabende Südteil der Stadt vermischen ‒ wenigstens etwas. Aber auch hier rümpfen die Cariocas aus den besseren Kreisen die Nase. Auf der anderen Seite des Tunnels zu wohnen, der die Metropole in mehr als einer Hinsicht teilt, das finden sie eine deprimierende Vorstellung. Und bemühen sich, den Anschluss nicht zu verlieren: vom Strand in die Bar zur Disco. Bloß keine Party, keinen Cocktail auslassen.
    Der brasilianische Komponist Antônio Carlos Jobim, der den berühmten Song vom schlanken und zärtlichen Ipanema-Mädchen geschrieben hat, meinte einmal sogar: »Dieses Land wird nicht glücklich sein, solange nicht alle hier in Ipanema wohnen können.« In Wahrheit kann sich kaum das wohlhabendste Promille der Brasilianer hier eine Bleibe leisten – die Strand-Avenue mit den Spitzenrestaurants nebst der Parallelstraße und Einkaufsmeile Rua Visconde de Pirajá zählen zu den feinsten Adressen Rios. Neben den Schönen und Reichen haben in Copacabana, Ipanema und dem angrenzenden, ebenso hochklassigen Leblon noch zwei besondere Berufsgruppen Konjunktur: die Immobilienmakler und die Investmentbanker.
    Die Hauptstraße des westlich an Ipanema angrenzenden Leblon hat die heimische Presse wegen der hohen Dichte von Hedgefonds-Managern und Investmentbankern zur »Wall Street« gekürt. Das ist nicht ganz zutreffend, weil die wichtigste Börse des Landes ja in São Paulo beheimatet ist und nicht hier. Aber tatsächlich haben in Leblon zahlreiche Banker und Privatfinanziers ihre Zelte aufgeschlagen. Viele von ihnen sind »repatriierte« Cariocas, die festgestellt haben, dass sich nun in ihrer alten Heimatstadt Rio mehr Geld machen lässt als in New York oder London. Und die zu der Erkenntnis gekommen sind, dass man hier zudem noch einen anderen, angenehmeren, lässigeren Lebensstil pflegt als an den hektischen westlichen Finanzplätzen. An der Copacabana, in Ipanema oder Leblon mischen sich kaum die gesellschaftlichen Schichten, vom Strand einmal abgesehen. Aber es ist hier wenigstens nicht alles einförmig und geleckt: Im Stadtbild wechseln sich sündhaft teure Sushi-Restaurants mit Pizzerien ab, Straßenverkäufer bieten aus ihren rollenden Wagen mit den grünen Eisboxen Obstsäfte an, und neben der Hermès-Boutique haben sich an einer der Prachtalleen auch noch ein Schlüsseldienst und ein Gemischtwarenladen gehalten.
    Schließt man die Augen und hört nur auf die Geräusche, dann lässt sich zumindest einen Augenblick lang die Illusion aufrechterhalten, es könnte sich hier um ein gemütliches Dorf am Meer handeln: das gleichmäßige Rauschen der Wellen, das lebhafte Geschnatter der Strandgängerinnen, der Jubel der Fußballspieler, die werbende Stimme des Kokosnussverkäufers. Aber dann bläst eine schrille Polizeisirene die Stimmung weg. »Eine Razzia?« Der Mann am Getränkekiosk grinst. »Ja, das ist wohl wieder eine dieser ganz besonderen Razzien der Strandkontrolleure, und heute trifft es Gott sei Dank nicht uns. Denn vor denen ist Vorsicht geboten, die verstehen keinen Spaß.« Er schwankt zwischen Verachtung und Verständnis. »Klar hat die Spezialeinheit schon manche Missstände behoben und nach allem, was man weiß, sind die auch nicht korrupt. Aber andererseits kann sie einem mit ihrer peniblen Ordnungswut auch ganz schön auf den Geist gehen.«
    Die schnelle Eingreiftruppe des Amts, die Choque de Ordem, kommt nur in Ausnahmefällen – und wenn sie Anlass für eine besondere Machtdemonstration sieht – mit Blaulicht angefahren. Aber man weiß nie, wann und wo sie zuschlägt. Sie wurde im Jahr 2010 auf Wunsch von Bürgermeister Eduardo Paes gegründert und besteht aus zwei Dutzend Männern und Frauen, die Bermudashorts, blaue Westen und Sonnenbrillen tragen. Walkie-Talkies sind am Gürtel festgemacht. Und Schlagstöcke. Die Gruppe schwärmt Tag für Tag aus, vor allem in den Abendstunden: Sie soll Kleinkriminellen das Handwerk legen, auf Taschendiebe, illegale Parkwächter und

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