Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Delikatessen: eine sexy Schwarzwälder Kirschtorte, aus der Samba-Prinzessinnen ihre rotbehelmten Köpfe als Kirschen herausstreckten, sowie sechzig perlende Biergläser, aus deren Schaum halbnackte Gespielinnen in die Menge winkten. Das Ensemble erhielt viel Beifall und errang einen beachtlichen dritten Platz unter den prämierten Sambaschulen.
Rios Karneval ist allerdings gar nicht mehr urbrasilianisch. Jedenfalls nicht, was seine Ausstattung angeht. Zwar sind die meisten der Kostüme und Masken immer noch vor Ort hergestellt und handgemacht, aber ohne chinesische Hilfe wäre das größte Fest nicht mehr denkbar. »Wir produzieren in Brasilien nur mehr 15 Prozent der Rohmaterialien, die wir für das Fest brauchen, den Rest des synthetischen Materials müssen wir importieren«, sagt Jonathan Schmidt, Präsident des brasilianischen Textilverbandes. »Das allermeiste kommt aus der Volksrepublik, wo sie Textilien um gut 50 Prozent billiger produzieren als wir hier.« China hat im Jahr 2009 die USA als größten Handelspartner abgelöst und ist längst auch schon größter Investor in Brasilien, mit einem Handelsüberschuss von über elf Milliarden US -Dollar. Solche Zahlen lassen die Cariocas normalerweise kalt, aber als eine Zeitung die Kostümstatistik veröffentlichte, schluckten viele: Der »heilige« Karneval – von Schanghai gesponsert, durch Pekinger Federschmuck fremdgesteuert, mit Guangdong-Plastik aufgepeppt?
Zurück in die Innenstadt, hinauf zum Sundowner in die Kneipe von Bob Nadkarni. Dorthin, wo sich Slumbewohner und Rios Jeunesse dorée zwar nicht mischen, aber wo sie mindestens hautnah aufeinanderstoßen. Nadkarni, Ende sechzig, ist ein Typ à la Bud Spencer, groß, kräftig, lässig. Weltenbummler, Allroundtalent und begnadeter Kneipier in einem. Er steht wie so häufig im Unterhemd an der Theke, eine Havanna im Mundwinkel. Der Sohn eines anglikanischen Priesters und einer Dramaturgin ist in London aufgewachsen und hat dort Bildende Künste studiert. Er gestaltete die Kulissen für Stanley Kubricks Klassiker 2001 – Odyssee im Weltraum , drehte zahlreiche Kurzfilme und Werbespots. Für die BBC ging er dann als Kameramann in den Libanesischen Bürgerkrieg und überstand die Gemetzel von Beirut nur knapp. Rastlos zog er weiter durch die Welt, bis er seine Liebe fand – die Tochter eines Arbeitslosen in einer Favela von Rio. Mit der Schönheit zeugte er vier Kinder, baute sich in dem Armenviertel Tavares Bastos erst ein Atelier, dann eine Galerie und eröffnete eine kleine Pension nach eigenen Entwürfen. Nadkarni aber hatte noch einen anderen Traum, den er sich schließlich mit eigenen Händen – und der billigen Arbeitskraft seiner weitläufigen Slum-Verwandtschaft – erfüllen konnte: eine eigene Jazzkneipe. The Maze nannte er die verwinkelte Gaststätte, »Der Irrgarten«.
Inzwischen ist das Lokal mehr als ein Geheimtipp, den Cariocas nur an Freunde weitergeben – im »Irrgarten« trifft sich auch internationale Prominenz, die mal etwas Besonderes jenseits des Copacabana-Ipanema-Luxus sehen will. Charlotte Rampling trank hier einige Caipirinhas, Edward Norton nahm hier seine doppelten Whiskys, als er sich abends von den Dreharbeiten zum dritten Teil von Hulk entspannte. Wenig später holte er seine ganze Crew nach, und alle waren sich einig: Grandioser kann eine Aussicht kaum sein. Direkt unter der Kneipe die gerade renovierten Favela-Hütten, dann das Häusermeer der Innenstadt, weiter links das wuchernde Immergrün des Dschungels, der tiefblaue Atlantik in der Ferne und darüber der Zuckerhut. Rio in allen Facetten: attraktiv und abstoßend, amoralisch und anziehend in einem – ein Paradies und ein Schandfleck der Welt. Ort des Protests, Ort der Veränderung: ein permanentes Versuchslabor der Menschheit.
Im »Irrgarten« ist in dieser Samstagnacht Live-Jazz angesagt, und zu später Stunde greift auch der Hausherr zur Trompete. 15 Euro Eintritt, zwei Drinks inklusive. Die Anwohner respektieren Nadkarni und garantieren seinen Gästen den Weg herauf aus der Innenstadt, vom »Asphalt«, wie sie die wohlhabendere Unterstadt nennen. Er hat immer dafür gesorgt, dass sie von seinen Unternehmungen profitieren, hat sogar geholfen, korrupte Polizisten zu überführen. Heute fungiert er als eine Art Mittelsmann zwischen den Eliteeinheiten, die den weitgehend »pazifizierten« Slum kontrollieren, und den immer noch gegenüber jeder Polizei misstrauischen Favela-Bewohnern. Das Konzert ist auch in
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