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Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)

Titel: Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Follath
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die traditionelle Blumenkette umgelegt. Rio im Ausnahmezustand: Als Zeichen der Hochachtung kniete der Bürgermeister, wie von der Tradition vorgeschrieben, vor dem Karnevalskönig Momo nieder und übergab symbolisch die Stadtschlüssel. Im wahren Leben heißt der 160 Kilo schwere Mann Milton Junior und ist ein Bankangestellter Mitte dreißig. Titel plus Krone trägt er bereits im fünften Jahr. Ebenfalls von den Sambaschulen gewählt, stand dem König diesmal die 19-jährige Evelyn Bastos als Königin zur Seite: Die bildhübsche Studentin punktete neben ihren Tanzkünsten auch mit der Aussage, alles an ihr sei »natürlich«; eine Anspielung auf die von Schönheitschirurgen auf Idealmaß zugeschnittenen, besonders vollbusigen Konkurrentinnen.
    Man muss den Fasching à la Rio einmal erlebt haben. Diesen Sinnestaumel, wenn die Luft flimmert, und – im wahrsten Sinn des Wortes wie im übertragenen – der Asphalt kocht. Wenn aus Büroangestellten peitschenschwingende Sklavenhalter werden, aus Sekretärinnen tollwütige Highheels-Hyänen, aus Prokuristen grimmige Teufel. Schon Tage vor dem eigentlichen Höhepunkt im Tempodrom wird geprobt. Die einzelnen Sambaschulen zeigen den nichtgeheimen Teil ihres Programms, wirbeln über die etwas zwielichtige Praça Mauá bis zur Avenida Rio Branco, der alten Hauptstraße mit den Banken und Bürohochhäusern. Und immer wieder wird die Choreografie der Tanzschritte überarbeitet, am Layout der Prachtwagen herumgebastelt, das Trommeln der Musiker optimiert. Denn Karneval in Rio, so unbeschwert er sich auch anfühlt, bedeutet zumindest für die Teilnehmer auch harter Wettbewerb. Jede Escola de Samba wählt jährlich ein neues Motiv, entsprechend werden die Kostüme und Rhythmen abgestimmt. Es gibt, vergleichbar dem Fußball, vier Ligen. Man kann aufsteigen und absteigen, in der Grupo Especial spielen nur die Teams der Champions League. Alles läuft nach einem festen Ritual ab: Die Reihenfolge der Top-Sambaschulen wird per Los bestimmt, sechs sind es noch am großen Tag. Jede der Escolas hat Hunderte Mitwirkende, ihre Darbietungen sind zeitlich limitiert. Ein Punktesystem bewertet die künstlerische Umsetzung des Themas, die dabei gezeigte Phantasie, aber auch die Präzision der Darbietung. Mehr als achtzigtausend Menschen verfolgen das Finale im Sambodrom, zig Millionen sehen sich die Entscheidung bei der Live-Übertragung auf den Bildschirmen an. Wie bei der Schlussfeier einer Fußballweltmeisterschaft oder der Olympischen Spiele gipfelt die Veranstaltung in einem spektakulären Feuerwerk.
    Bei aller Kommerzialisierung des Karnevals: Es ist schwer, sich der Magie des Festes zu entziehen. Sie lässt einen begreifen: Dieses brodelnde, überschäumende Fest ist für Rio auch Therapie, Heilmittel gegen Manager-Burnout wie Arbeitslosen-Frust. Es ist Flucht aus dem Alltag, es lässt die sozialen Unterschiede verschwimmen, es stellt die Welt auf den Kopf. Es ist Religionsersatz, nein, mehr noch, es ist Religion. Für manche Liebhaber beginnen mit dem Ende der tollen Tage die Vorbereitungen für die nächsten – man kann in Rio rund um die Uhr Karneval leben, jedenfalls versuchen das manche.
    2013 war das deutsche Jahr in Rio, belegt allein schon durch die zahlreichen Karnevalsgäste vom Rhein. Christoph Kuckelkorn, Chef des Rosenmontagszugs in Köln, sah dabei große Parallelen zwischen den Karnevalshochburgen. Das Fest führe die Menschen zusammen, und die Leitsprüche seien auf beiden Seiten während der närrischen Tage doch sehr ähnlich: So Alegría (»Nur Freude«) in Rio, »Spaß an der Freud« in der Rhein-Metropole. Was Kuckelkorn dann zu einer wagemutigen Evolutionstheorie verleitet: »Der Brasilianer von Rio ist eine konsequente Weiterentwicklung des Kölschen.«
    Die Sambaschule Unidos da Tijuca hat sich ein in ihren Augen besonders exotisches Völkchen vorgeknöpft: die Deutschen. Im Sambodrom erzählte ein Blitze schleudernder Thor anhand einiger charakteristischer Figuren eine kleine Geschichte vom Land zwischen Nordsee und Alpen. In den Hauptrollen: die Bremer Stadtmusikanten, Esel, Katze, Hahn in Masken, von schwarzen Sängern in Kniebundhosen intoniert; Schneewittchen und die sieben Zwerge, die sich, von leicht bekleideten Tänzerinnen dargestellt, in Pilze verwandelten; eine mit vielen Violinschlüsseln geschmückte, ansonsten aber weitgehend unbekleidete Beethoven-Darstellerin; Doktor-Faustus-Tänzer; und als Höhepunkt ein Wagen mit gespielten typisch deutschen

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