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Die neuen Leiden des jungen W

Die neuen Leiden des jungen W

Titel: Die neuen Leiden des jungen W Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urlich Plenzdorf
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legen.
    Charlie boxte mir sofort in die Rippen und fauchte mich an: Bist du noch normal, ja?
    Dann rannte sie weg. Sie rannte weg, aber ich kam in eine völlig verrückte Stimmung. Ich begriff zwar langsam, daß ich bei Charlie vorläufig nichts zu bestellen hatte. Trotzdem war ich irgendwie echt high. Jedenfalls stand ich plötzlich vor meiner Laube und hatte ein Band von Old Willi in den Pfoten. Folglich mußte ich auf der Post gewesen sein. Ich weiß nicht, ob einer so was kennt, Leute.
    Lieber Edgar. Ich weiß nicht, wo du bist. Aber wenn du jetzt zurückkommen willst, der Schlüssel liegt unter dem Fußabtreter. Ich werde dich nichts fragen. Und ab jetzt kannst du nach Hause kommen, wann du willst. Und wenn du deine Lehre in einem anderen Betrieb fertig machen willst, auch. Hauptsache, du arbeitest und gammelst nicht.
    Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Das war Mutter Wibeau.
    Dann kam Willi: Salute, Eddie. Ich hab deine Mutter einfach nicht abwimmeln können. Tut mir leid. Sie ist ganz schön am Boden. Sie wollte mir sogar Geld geben für dich. Vielleicht ist der Gedanke mit dem Arbeiten gar nicht so schlecht. Denk mal an van Gogh oder einen. Was die alles machen mußten, um malen zu können. Ende.
    Ich hörte mir das an. Ich wußte sofort, was von Old Werther darauf paßte:
    Das war eine Nacht! Wilhelm! nun überstehe ich alles. Ich werde sie nicht wiedersehn! ... Hie sitz ich und schnappe nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und mit Sonnenaufgang sind die Pferde...
    Länger war das Band blöderweise nicht, und ich hatte keinen Nachschub mehr. Ich hätte ein Stück Musik löschen müssen, aber das wollte ich nicht. Aus der Bude gehen und neues Band ranschaffen wollte ich auch nicht. Ich analysierte mich kurz und begriff, daß die ganze Kolchose und das nicht mehr popte. Ich dachte nicht daran, zurück nach Mittenberg zu gehen, das nicht. Aber es popte einfach nicht mehr.

    »Aber irgendwann muß Edgar dann doch angefangen haben zu arbeiten, beim Bau. Beim WIK.«
    »Ja, sicher. Ich hab ihn dann einfach aus den Augen verloren. Ich hatte genug eigene Dinge. Die Hochzeit. Dann fing Dieter an zu studieren. Germanistik. Es fiel ihm nicht ganz leicht zu Anfang. Ich arbeitete nur noch halbtags, um ihm den Start zu erleichtern. Dann zogen wir mit dem Kindergarten in den Neubau um, das alte Haus kam weg, wegen der Neubauten, auch der Auslauf neben Edgars Grundstück. Wir hätten einfach zur Polizei gehen sollen. Da wohnt einer unerlaubt in einer Laube. Ich weiß nicht, ob ihm das geholfen hätte. Jedenfalls wäre es dann nicht passiert.«
    »Darf ich Sie etwas fragen? — Haben Sie Edgar gemocht?«
    »Wie gemocht? Edgar war noch nicht achtzehn, ich war über zwanzig. Ich hatte Dieter. Das war alles. Was denken Sie?«

    Richtig, Charlie, nicht alles sagen. Es hat keinen Zweck, alles zu sagen. Ich hab das mein Leben lang nicht gemacht. Nicht mal dir hab ich alles gesagt, Charlie. Man kann auch nicht alles sagen. Wer alles sagt, ist vielleicht kein Mensch mehr.

    »Sie müssen mir nicht antworten.«
    »Gemocht hab ich ihn natürlich. Er konnte sehr komisch sein. Rührend. Er war immerzu in Bewegung... ich...«

    Heul nicht, Charlie. Tu mir den Gefallen und heul nicht. Mit mir war nicht die Bohne was los. Ich war bloß irgend so ein Idiot, ein Spinner, ein Angeber und all das. Nichts zum Heulen. Im Ernst.

    »Guten Tag! Ich soll mich an Kollegen Berliner wenden.«
    »Ja. Das bin ich.«
    »Wibeau ist mein Name.«
    »Haben Sie was mit Edgar zu tun? Edgar Wibeau, der bei uns war?«
    »Ja. Der Vater.«

    Addi! Alte Streberleiche! Ich grüße dich! Du warst von Anfang an mein bester Feind. Ich hab dich getriezt, wo ich konnte, und du hast mich geschurigelt, wenn es irgendwie ging. Aber jetzt, wo alles vorbei ist, kann ich es rauslassen: Du warst ein Steher! Unsere unsterblichen Seelen waren verwandt. Bloß deine Gehirnwindungen waren rechtwinkliger als meine.

    »Das war eine tragische Sache mit Edgar. Erst waren wir ziemlich am Boden. Heute ist uns vieles klarer. Edgar war ein wertvoller Mensch.«

    Addi, du enttäuschst mich, und ich dachte, du bist ein Steher. Ich dachte, du machst das nicht mit, über einen, der über den Jordan gegangen ist, diesen Mist zu reden. Ich und ein wertvoller Mensch. Schiller und Goethe und die, das waren vielleicht wertvolle Menschen. Oder Zaremba. Es hat mich sowieso zeitlebens immer fast gar nicht getötet, wenn sie über einen Abgegangenen dieses Zeug redeten, was er für ein

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