Die Neunte Gewalt
Lieblinge«, erklärte der Wahnsinnige und spähte durch die Einwegscheibe.
In der Zelle befand sich ein Junge um die zwanzig Jahre, der mit seinem langen, blonden Haar wie ein Rockstar aussah. Er saß auf einem Sofa und trug Kopfhörer, die mit einer modernen Stereoanlage verbunden waren, die fast die gesamte gegenüberliegende Wand beanspruchte. »Jon Goldberg«, erklärte Leeds, »ein reicher Junge, der Geschmack am Nervenkitzel des Tötens fand. Er und zwei Kumpane schlugen fünf jüngere Burschen mit Baseballschlägern tot. Eines Tages wollten seine Freunde aussteigen, und Jon brachte sie um. Das war vor drei Jahren. Er wurde an seinem achtzehnten Geburtstag in ›The Locks‹ eingeliefert, genau einen Monat bevor ich dort eintraf.«
»Ich habe genug gesehen«, sagte Kimberlain.
Leeds runzelte enttäuscht die Stirn. »Wir haben doch gerade erst angefangen.«
»Sind das die Bewohner der Welt, die die neunte Gewalt schaffen will, Leeds? Nicht sehr anspruchsvoll für einen Mann Ihres Niveaus.«
»Weil ich mit ihnen noch nicht fertig bin. Kommen Sie, da ist etwas, das Sie wirklich noch sehen sollten …«
Eine Tür am anderen Ende des Gangs öffnete sich auf einen weiteren, kürzeren Korridor mit Türen an beiden Seiten. Erneut ermöglichte ihnen Einwegglas die Sicht in die Zellen, die jedoch alle unbelegt waren. In jeder standen ein oder zwei Stühle. Auf einigen Stühlen waren Riemen angebracht.
Kimberlain ging ein Licht auf. »Hier haben Sie es durchgeführt«, sagte er. »Renaissance.«
»Ja«, sagte Leeds und trat näher an ihn heran, fast so nahe, daß Kimberlain einen Angriff riskieren konnte. Der Tod war eine akzeptable Alternative – solange er Leeds mitnehmen würde. Doch er mußte warten, bis sich ihm eine aussichtsreichere Möglichkeit bot.
»Im Anfangsstadium, also vor mehreren Jahren«, fuhr Leeds fort, »benutzten wir ausgeklügelte Konditionierungsmethoden. Tiefenhypnose, und was man allgemein als Gehirnwäsche bezeichnet. Doch leider erwiesen sich die Ergebnisse als nicht dauerhaft genug. Mehrere Versuchsobjekte erinnerten sich teilweise an ihre Vergangenheit, und bei einigen wenigen Fällen kehrten sogar alle Erinnerungen zurück. So etwas kann nur zum Chaos führen. Der Verstand rebelliert. Solch eine Verschwendung …« Sie schritten langsam den Korridor entlang. »In letzter Zeit ist es uns gelungen, Erinnerungen zu löschen, indem wir das Ammonshorn und die Abschnitte der Großhirnrinde freigelegt haben, in denen die Erinnerungsbestandteile sozusagen abgespeichert sind, und mit eine Sonde zielsicher Mikrowellen ausgestrahlt haben. Eine faszinierende Weiterentwicklung. Sie beschleunigt den Prozeß beträchtlich.«
»Und nachdem die Behandelten sich nicht mehr bewußt an ihre Vergangenheit erinnern können?«
»Pflanzen wir falsche Erinnerungen ein, genug, um dem Bewußtsein ein ausreichendes Polster zu liefern. Doch nur die Erinnerungen selbst werden gelöscht. Der Kern der Patienten bleibt erhalten und kann blühen und gedeihen.«
»Sie schaffen sie nach Ihrem eigenen Bild, Leeds.«
»Nach dem der Patienten, aber ja, das Konzept haben Sie begriffen.«
»Werkzeuge, Leeds, Roboter.«
Leeds fuhr mit einer heftigen Bewegung zu ihm herum. »Nein. Männer und Frauen, die nun ihre wahre Natur ausdrücken und ausleben können, deren Energie und Kraft in Kanäle umgeleitet wurde, durch die sie sich am besten nutzen lassen.«
»Aber da ist noch mehr, Leeds. Ihre neunte Gewalt wird sich erst ein Reich schaffen können, nachdem alle anderen Menschen aus dem Weg geräumt worden sind. Wie genau wollen Sie das bewerkstelligen?«
Leeds nickte. »Auf eine wirklich faszinierende Art und Weise. Ich glaube, sie würde sogar Ihnen gefallen.«
»Verraten Sie sie mir.«
»Das werde ich, sobald die Zeit dafür gekommen ist, vorausgesetzt …«
Sie hatten den letzten Raum am Gang erreicht. Leeds blieb stehen und bedeutete Kimberlain, durch die Einwegscheibe zu sehen. Dahinter befand sich etwas, das Kimberlain an einen hochmodernen Operationssaal erinnerte, steril und mit Geräten, die ihm größtenteils unbekannt waren. Er fragte sich, ob auch ein Captain Seven sie alle kannte.
»In diesem Raum würde es geschehen, Fährmann. Wenn Sie ihn wieder verlassen, werden Sie nicht mehr der Mensch sein, als den Sie ihn betreten haben. Sie werden frei von allen moralischen Dilemmas sein, die Ihr Leben so unzufrieden gestalten. Sie werden sich von allem befreit haben, nur nicht von Ihrem elementaren
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