Die Neunte Gewalt
schlammgetränkten Schlafanzügen oder Nachthemden zur Cafeteria. Hedda hockte auf der umzäunten Veranda und hielt sich absichtlich von den anderen fern. Ihr war kalt, und sie war bis auf die Haut naß. Sie kämpfte gegen den Schmerz an, hielt die Hände an die Brust gedrückt und versuchte, die Geräusche des Sturms von denen zu unterscheiden, die beim Kampf des Fährmanns gegen Tiny Tim entstehen mochten. Seltsam, daß sie in ihm nur den Fährmann und nicht Kimberlain sah; doch würde sie ihn als Kimberlain akzeptieren, würde sie damit auch die tragische Wahrheit ihrer eigenen Vergangenheit eingestehen müssen. Er war genauso wenig ihr Bruder, wie der Junge, den sie gerettet hatte, ihr Sohn war. Vielleicht dem Namen nach, aber in keiner anderen Hinsicht.
»Bewegt euch! Na los, bewegt euch!«
Und die verzweifelten und entsetzten Gäste strömten weiterhin an ihr vorbei. Hedda wollte sich in der Hoffnung über die Umzäunung erheben, vielleicht einen Blick auf den Jungen werfen zu können, um wenigstens einen flüchtigen Eindruck von ihm zu bekommen.
»Das Haupthaus, sage ich! Das Haupthaus!«
Es war die beste Möglichkeit, die Menschen in einer vertrauten Umgebung zusammenzuziehen, um ihre Panik zu lindern und sie zu schützen. Eine offensichtliche Strategie unter solch düsteren Umständen, eine, auf die jeder vernünftige Mensch zurückgegriffen hätte.
Hedda erstarrte. Wenn ihr diese Strategie einsichtig war, dann war sie es offensichtlich auch Tiny Tim. Bevor er seine nächtliche Arbeit begonnen hatte, – mußte er dem Haupthaus einen Besuch abgestattet haben. Hedda zog sich hoch und trat in den Sturm hinaus. Sie bewegte sich, so schnell sie konnte, glitt im feuchten Schlamm aus, rappelte sich schmutzig und noch verzweifelter sofort wieder auf. Sie griff nach der Schrotflinte auf ihrem Rücken und benutzte sie als Krücke, um sich durch den Sturm vorzuarbeiten.
»Setzen Sie sich!« rief der Ranger durch ein Megaphon. »Bitte setzen Sie sich und beruhigen Sie sich … Wir müssen herausfinden, ob Familien oder Familienmitglieder vermißt werden. Wir müssen wissen, ob jemand vermißt wird. Hilfe ist unterwegs!«
Die Feriengäste suchten hektisch nach Sitzgelegenheiten. Das Personal der Anlage mischte sich unter sie und versuchte, die Ruhe wiederherzustellen. Die Unterkünfte der Angestellten befanden sich am Rand des weitläufigen Ferienparks, und der Ranger hatte über Funk Alarm geschlagen.
Taschenlampen und ein paar Fackeln spendeten die einzige Helligkeit; von der verängstigten Menge hoben sich jetzt nur noch ein leises Murmeln und gelegentliches Schluchzen. Einige Männer und Frauen kümmerten sich mit Verbandszeug und Medikamenten aus der kleinen Notfallklinik der Anlage um Verletzte. Die Menschen flüsterten sich Gerüchte zu, was geschehen sei, doch die, die es wirklich wußten, schwiegen.
Der Ranger und das Personal bemühten sich nach Kräften, eine weitere Panik zu vermeiden. Diese Aufgabe wurde fast unmöglich gemacht, als eine der Cafeteriatüren aufgestoßen wurde. Eine Frau, schrecklich mitgenommen, vom Sturm völlig durchnäßt und aus einer Schulterverletzung blutend, stürmte mit einem Gewehr in der Faust herein.
Hedda hätte zwar einen weniger dramatischen Auftritt vorgezogen, wußte jedoch, daß sie den Menschen einen heftigen Schock versetzen mußte, wollte sie ihr Ziel in der begrenzten, zur Verfügung stehenden Zeit erreichen. Eine schnelle Untersuchung des Fundaments der Cafeteria hatte ihr das letzte Bestandteil von Tiny Tims Plan enthüllt.
»Alle raus!« überschrie sie das Jammern und Flüstern. »Alle raus! Sofort!« Als die Feriengäste sich nicht rührten, senkte sie die Schrotflinte auf Hüfthöhe und ließ sie drohend kreisen. »Raus hier, sage ich! Verschwindet von hier und lauft so weit von dem Gebäude fort, wie ihr könnt!«
Der Ranger griff nach seiner Waffe, doch Hedda richtete das Gewehr auf ihn.
»Nicht! Hört mir zu!« rief sie allen zu, die sie verstehen konnten. »Dieses Gebäude wird explodieren! Und jetzt raus hier!«
Nach alledem, was sich in den letzten Minuten ereignet hatte, bezweifelte niemand ihre Worte. Im nächsten Augenblick stand neue Panik auf den Gesichtern der Feriengäste. Wie verrückt rannten sie zu den Türen. Fensterscheiben wurden ausgeschlagen und die entstandenen Öffnungen als Notausgänge zweckentfremdet. Der Ranger bahnte sich durch das Gedränge den Weg zu ihr.
»Wer, zum Teufel, sind …«
»Propan«, sagte Hedda. »Er
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