Die Neunte Gewalt
Hedda stehen. Er rollte sie auf den Rücken, und sofort quoll das Blut aus ihren Verletzungen auf den Boden. Dann half er dem Jungen auf, dessen Leben sie gerettet hatte. Er stand wie erstarrt da; der Schock hielt ihn fest im Griff. Ein älteres Ehepaar in Nachtzeug kam herangelaufen und nahm den Jungen in die Arme – offensichtlich seine Großeltern.
»Gott sei Dank«, murmelten sie. »Gott sei Dank. Gott sei Dank …«
Sie wollten etwas sagen, als Kimberlain neben Hedda niederkniete. Ihr Gesicht war bleich wie das eines Gespenstes. Ihre Lippen zitterten. Ihre Augen erstarben.
»Ich habe ihn gerettet«, stöhnte sie, »nicht wahr?«
»Ja.«
Kimberlain sah, wie sie zu lächeln versuchte. Dann suchte ihr Blick den seinen und fand ihn.
»Schnapp dir Seckle, Fährmann. Mach ihn fertig.«
»Das werde ich«, versprach Kimberlain, doch Heddas Augen blickten schon starr ins Leere. Er drückte sie ihr zu und sprang auf. Heiße Wut durchströmte ihn.
Wop-wop-wop-wop-wop …
Der Fährmann war schon ein gutes Stück auf einem der unbefestigten Wege, die den Hügel hinaufführten, als er das Geräusch hörte. Er erkannte es augenblicklich und blickte nach oben. Aus der Dunkelheit senkte sich der Lichtstrahl eines starken Scheinwerfers über den See und kämpfte gegen die Macht des Sturms über die Nacht an.
Als der Hubschrauber zum Landeanflug ansetzte, machte Kimberlain die riesige Gestalt Seckles aus. Er kämpfte sich hinter den Hütten im Süden hinauf. Bevor Kimberlain den Abzug betätigen konnte, riß ihn der Luftzug von den Füßen. Im nächsten Augenblick erklang aus dem Chopper eine Schnellfeuersalve und zerfetzte das Erdreich vor ihm. Kimberlain wartete, bis der Helikopter wieder aufstieg, und spurtete Tiny Tim hinterher. Doch eine weitere Salve folgte seinen Bewegungen, und nur ein Sprung hinter eine Hütte verhinderte, daß er getroffen wurde.
Als er um die Hütte gekrochen war, schwebte der Hubschrauber schon über Garth Seckle. Jemand hatte eine Strickleiter hinabgeworfen und bedeutete dem Ungetüm, sie hinaufzuklettern.
Kimberlain hatte noch vier Patronen übrig und feuerte sie alle in dem Zeitraum ab, den Tiny Tim brauchte, um die Strickleiter zu packen und davongetragen zu werden. Doch der Sturm verschluckte seine Schrotladungen, und der Hubschrauber schaltete den Scheinwerfer aus und verschwand in der Dunkelheit.
DIE NEUNTE GEWALT
TD-13
Samstag, 22. August, 9 Uhr
36
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Winston.«
Peet saß in der Mitte des kleinen verriegelten Raums. Bevor man ihn dort hineingebracht hatte, hatte man alle Möbel entfernt. Der Raum war völlig kahl und leer. Das einzige Anzeichen dafür, daß er über eine Einrichtung verfügt hatte, bestand in helleren Flecken auf dem Boden, dort, wo einmal Möbel gestanden hatten.
»Wir haben uns noch nicht kennengelernt, Leeds«, sagte Peet, ohne zu der Kamera über der Tür aufzublicken.
»Aber unsere Seelen. Vor Jahren, vielleicht sogar schon vor viel, viel längerer Zeit.«
»Sie hätten mich in Ruhe lassen sollen.«
»Ich und auch der Fährmann. Aber leider sind wir in eine Schlacht um Ihre Seele verstrickt. Und ich habe gewonnen.«
»Meine Seele gehört mir.«
»Aber Sie haben sie mit meinem Schicksal verbunden. Sie hätten sich für den Tod entschieden, wollten Sie nicht wirklich hier an meiner Seite stehen.«
»Und mich zu Ihnen gesellen, meinen Sie?«
»Lediglich, um das zu sein, was Sie sind. Und daher gehören Sie zu mir, mein Freund. Ich werde nicht versuchen, Sie zu ändern, Winston. Ich will Ihr wahres Ich neben mir haben, wenn wir eine ganz besondere Mission beginnen, die die Welt schaffen wird, in der zu leben Sie geboren wurden.«
»Das neunte Reich … die neunte Gewalt.«
»Ja«, sagte Leeds, und die Überraschung war seiner Stimme anzumerken.
»Wie ich sehe, hat Kimberlain Sie in das eingeweiht, was er herausgefunden hat.«
»Er wird kommen, Leeds.«
»Damit rechne ich. Ich dachte, Sie hätten gern das Vergnügen, sein Ableben zu arrangieren. Eine passende Vollendung der Kreisbewegung, meinen Sie nicht auch? Damit ein neuer Kreislauf beginnen kann.«
»Es gibt nur einen Kreislauf, Leeds, und der währt ewig. Leben heißt, nicht einmal, sondern jede Minute geboren zu werden. Der Tod tritt nur ein, wenn man nicht mehr geboren wird.«
»Und für Sie ist es an der Zeit, wiedergeboren zu werden.«
»In dieser Zelle?«
»Aber nein.«
Peet hörte ein Klicken, und dann öffnete sich langsam die
Weitere Kostenlose Bücher