Die Neunte Gewalt
Seckle hatte noch fünf Handgranaten und drei Magazine für die Uzi, um ihnen das zu beweisen. Er wußte, daß er noch etwas bewerkstelligen mußte, sollte die Nacht ihn wieder umarmen. Er wollte auf einem Feld liegen, mit weit geöffneten Augen zu den Sternen hinaufsehen und die Erinnerung an diesen Besuch auskosten, ihn noch einmal durchleben. Konnte er das nicht, hatte sein Leben keinen Sinn mehr. Er mußte etwas bewerkstelligen, um es später genießen zu können.
Tiny Tim zog mit den Zähnen den Bolzen aus einer Granate und bog den Arm zurück. In dem Augenblick, da er die Granate schleudern wollte, brannte ein lauter Knall in seinen Ohren, und ein Teil des Baumstamms direkt neben ihm explodierte. Dann traf ihn etwas gegen die Brust und warf ihn zurück. Dort, wo das Kevlar bereits zerfetzt war, drang ein Teil der Schrotladung in seine Brust. Die Granate, die er gerade hatte werfen wollen, entglitt seinen Fingern und rollte langsam den Hügel hinab.
»Runter! Alle runter!« vernahm er eine laute, dröhnende Stimme. Seckle nahm Deckung hinter einem Baum am Rand des Wäldchens, und dann ließ die Explosion auch schon den Strand erzittern.
Die Opfer, die ihm entgangen waren, liefen wieder in alle Richtungen auseinander. Ein Junge stürmte ganz nah an ihm vorbei, sah ihn nicht, blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Er jammerte und schluchzte. Sonst war niemand in der Nähe.
Konnte es sein …? War es möglich …?
Es war einen Versuch wert. Tiny Tim sprang vor und packte den Jungen mit seiner Bärentatze. Er drückte ihm die Uzi an den Kopf, ließ ihn aber schreien, ließ ihn schreien …
»Kimberlain!« brüllte er dann durch verbrannte, blutige Lippen. »Ich habe ihn, Kimberlain!«
Hedda beobachtete alles von ihrer Position links von Seckle, gut zehn Meter von ihm entfernt. Doch der Junge stand zwischen ihr und dem Ungetüm. War es ihr Sohn? Sie konnte ihn in der Dunkelheit nicht gut genug ausmachen; doch selbst, wenn sie ihn genau gesehen hätte, hätte sie es nicht mit Sicherheit sagen können. Mit einem guten Gewehr, sogar mit einer großkalibrigen Pistole, hätte sie Seckle ausschalten können, aber nicht mit einer Schrotflinte. Keine Chance.
»Wo bist du, Kimberlain? Komm raus, oder ich bringe ihn um! Kimberlain!« Eltern warfen sich auf dem Sandstrand über ihre Kinder. Andere duckten sich hinter die spärliche Deckung, die die Boote oder deren Gestelle gaben. Angstschreie vermischten sich mit dem Zirpen von Grillen.
Hedda richtete ihr Gewehr auf ihn. War es das, was Tiny Tim von ihr wollte? Ein zweiter Junge, der durch ihre Kugel starb? Diesmal ihr Sohn … vielleicht …
»Kimberlain!«
Der Fährmann tauchte auf der anderen Seite hinter Tiny Tim auf, das Schrotgewehr in der Hand.
»Laß die Waffe fallen, oder ich töte ihn!«
Kimberlain warf die Waffe zu Boden. Tiny Tim lächelte ihn mit seinem verkohlten, geschwärzten Gesicht an. Auf der linken Seite war rohes, blasengeschlagenes Fleisch zu sehen, was ihn noch grotesker wirken ließ.
Hedda glitt aus dem Wäldchen und schlich an den Bäumen entlang.
Seckle nahm die Maschinenpistole vom Kopf des Jungen und richtete sie auf Kimberlain.
»Gut«, sagte er heiser. »Gut.«
Als Tiny Tim die Uzi zum Gesicht des Fährmanns hob, stürmte Hedda vor. Sie packte den Jungen und entriß ihn Seckles Griff. Im gleichen Augenblick wirbelte der Verrückte zu ihr herum. Sie schützte den Jungen mit ihrem Körper und riß ihn zu Boden. Das Aufbellen einer Salve drang in ihre Ohren, und im nächsten Moment explodierte der Schmerz in ihrem Rückgrat. Tausend glühende Nadeln schienen durch ihren Rücken zu fahren, und sie stöhnte auf und rang nach Atem.
Kimberlain ließ sich fallen, griff nach der Flinte und rollte sich herum, alles mit ein und derselben Bewegung. Die Schrotladung streifte Tiny Tims Seite, und brüllend vor Schmerz zuckte er zurück. Eine weitere Salve verfehlte ihn knapp, während er in das Wäldchen gegenüber vom Ufer zurücklief.
Die Frau hatte er erschossen, doch Kimberlain war ihm auf den Fersen. Er stürmte nun so schnell wie möglich durch den Wald, und die Steigung bereitete ihm Schmerzen. Zweige kratzten an seinem Gesicht, doch Seckle spürte sie nicht. Er gelangte auf eine kleine Lichtung, auf der man Äste kreisrund um ein Lagerfeuer aufgeschichtet hatte. Eine weitere, kleinere Steigung vor ihm lag die südliche Hüttenansammlung und dahinter der undurchdringliche Wald und seine Rettung.
Kimberlain blieb kurz neben
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