Die Neunte Gewalt
den anderen Insassen des Hochsicherheitstrakts.«
»Wie viele?«
»Mit Leeds vierundachtzig.«
»Ich habe sie nicht gespürt, Fährmann. Seltsam.«
Das Mobiliar der Hütte bestand aus den Einrichtungsgegenständen, die Kimberlain selbst gezimmert hatte, bevor er Peet die Hütte überlassen hatte, und Möbeln, die Peet selbst gebaut hatte. Die Umrisse von Peets Stücken – ein Sofa mit handgefertigten Polstern, ein Küchentisch aus Birkenholz, nur spärlich gefüllte Bücherregale – waren viel runder und weicher. Kimberlain erkannte, daß die harte Eckigkeit seiner eigenen Arbeiten die schwierigen Zeiten widerspiegelte, die er damals durchlebt hatte. Er nahm auf dem Sofa Platz und versank geradezu darin. Peet hatte natürlich alle Möbelstücke für seine gewaltige Größe ausgelegt. Der Riese stand bewegungslos in der offenen Küchennische, hin- und hergerissen zwischen den Aufgaben, Frühstück zu machen und Kimberlains Worte zu akzeptieren. Auf der Küchentheke stand ein starkes Kurzwellenradio, das Peets einzigen Kontakt mit der Außenwelt darstellte. Kimberlain schätzte, daß die Batterien wahrscheinlich sein Leben lang halten würden.
»Leeds kam zu meinem Haus«, fuhr er fort. »Spazierte geradewegs zu meiner Tür und ließ mir eine Nachricht da.«
»Wie kamst du dir da vor?«
»Mißbraucht.«
»Ja, Fährmann, aber nicht, weil er auf deinen Grund und Boden vordringen konnte, sondern in deinen Verstand. Hast du alles vergessen, was du von mir gelernt hast, Fährmann? Für Leeds ist das Ziel unbedeutend. Ihm kommt es nur auf die Mittel an. Nicht das Töten ist wichtig, sondern die Jagd, die dazu führt. Es ist nur ein Spiel, das aber keinen Spaß macht, wenn niemand da ist, mit dem man spielen kann.«
»Du meinst also, er will, daß ich ihn wieder verfolge.«
»Mehr noch. Er rechnet damit, und er will dich entmutigen, indem er vortäuscht, er sei dir überlegen.«
»Vielleicht täuscht er das nicht nur vor.«
»Und genau das ist doch der springende Punkt, nicht wahr? Zum erstenmal mußt du, der Fährmann, es mit jemandem aufnehmen, der besser ist als du. Wenn jemand, der eine ganze Menge Vorteile hat, darin nicht zumindest das Körnchen einer Erniedrigung findet, hat er das Schlechteste aus einem guten Geschäft gemacht. Leeds hat dich nicht nur einmal, sondern zweimal erniedrigt.«
»Zweimal?«
»Ein Mann wie Leeds würde, nachdem er einmal besiegt worden ist, niemals denjenigen verhöhnen, der ihn besiegt hat. Er würde ihn nur verhöhnen, wenn er den anderen wissen lassen will, daß er ihn keineswegs besiegt hat.«
»Und das heißt …«
»Wir sitzen in unserem Netz, wir Spinnen, und wir können nur das darin fangen, das sich auch fangen läßt.«
»Du behauptest, ich hätte Leeds geschnappt, weil er geschnappt werden wollte! Damit er in ›The Locks‹ eingesperrt wird?«
»Und jetzt, Fährmann, ist er mit dreiundachtzig anderen aus ›The Locks‹ ausgebrochen.«
»Und danach läßt er mir eine Nachricht zurück …«
»Seine Art, dich wissen zu lassen, daß er die ganze Zeit über besser war.«
Der Sinn in Peets Argumentation war pervers und verdreht, aber unwiderlegbar.
»Warum?« fragte Kimberlain.
»Einen Sinn, den wir nicht sehen können.«
»Warum ich!«
»Vorhersagbarkeit. Eine große Kraft, aber auch eine grundlegende Schwäche. Aber da ist noch mehr. Leeds hätte dich niemals mit seinem Besuch verhöhnt, würde er dich nicht auch fürchten. Wegen dieser Furcht nimmst du eine zentrale Rolle in seinen Gedanken ein. Manchmal greift man einen Feind nicht nur an, um ihm zu schaden oder ihn zu überwältigen, sondern um herauszufinden, wie stark er wirklich ist.«
»Er hätte mich einfach töten können.«
Peet lächelte. »Genau, wie du mich hättest töten können, als du in diesem früheren Leben eine noch bessere Gelegenheit dazu hattest. Es ist ganz einfach, Fährmann. Wer nur dafür lebt, um gegen einen Feind zu kämpfen, hat ein Interesse daran, daß sein Feind am Leben bleibt. Leeds braucht dich. Du bist für ihn etwas, das er hassen kann, und dieser Haß gibt dem Wahnsinn in ihm Nahrung.«
»Wie kann ich das für mich ausnutzen?«
»Indem du den Sinn findest, die Wahrheit, weshalb er sich in ›The Locks‹ sperren ließ … und wie und weshalb er wieder herausgekommen ist. Es liegt in seiner Vergangenheit, und dort mußt du suchen.«
»Allein, Peet?«
Das Gesicht des Riesen wirkte plötzlich traurig. »Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht
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