Die Neunte Gewalt
weder den des seinen noch den des ihren. Ihre eigene Verletzung ignorierend, schwamm sie los. Sie stützte den Jungen, so daß sein Gesicht über der Oberfläche blieb. Ihr selbst genügte alle zwanzig oder dreißig Sekunden ein Atemzug.
Mit den Atemzügen kamen kurze Blicke auf die Geschehnisse auf der Brücke über ihr. Die Schützen versuchten zuerst, sie auszumachen, und hielten dann Ausschau nach einem schnellen Weg zum Flußufer, hinab. Doch als sie ihn gefunden hatten, war Hedda schon ein gutes Stück geschwommen.
Ihre Schulter begann zu pochen. Doch noch schlimmer war, daß Christopher Hanleys Blut noch immer aus seiner Beinverletzung floß. Wenn er die Nacht überleben sollte, mußte sie augenblicklich etwas unternehmen.
Er oblag schließlich noch immer ihrer Verantwortung. Was Hedda betraf, so hatte ihr Auftrag mit der bizarren Wendung der Ereignisse auf der Brücke keineswegs sein Ende gefunden. Der Sprung in das eiskalte Wasser mochte ihnen das Leben gerettet haben, aber nur zeitweilig. Librarian würde wissen, daß sie noch lebten, daß sie, Hedda, noch lebte, und dementsprechend reagieren. Hedda mußte nun den Vorteil ausnutzen, den ihr die derzeitige Verwirrung des Gegners bot.
Der Gegner … ihre eigenen Leute.
Warum? Und warum hatte man sie bezüglich des Jungen von Anfang an belogen? Deerslayer hatte ihn entführt, und dann war sie beauftragt worden, ihn zurückzubringen. Es ergab keinen Sinn!
Doch im Augenblick kam es nur darauf an, Christophers Verletzung zu versorgen. Hedda zog ihn unter der Deckung dichter Büsche vorsichtig an Land. Die Nacht war warm, und es wehte kaum ein Lüftchen, ein nicht unbeträchtlicher Vorteil, da sie ja ihre Körpertemperaturen auf einem Niveau halten mußten, das ein Überleben ermöglichte. Außerdem stand ein aufgehender Mond am Himmel, was Hedda die Arbeit beträchtlich erleichterte.
Sie entfernte einen Lederbeutel, den sie an ihrem Gürtel befestigt hatte, und zog den Gürtel dann aus den Hosenschlaufen. Sie legte den Beutel auf einen Felsen neben ihr und zog den Gürtel über der Verletzung des Jungen um den Oberschenkel zusammen, um ihn notdürftig abzubinden. Fast augenblicklich wurde der Blutfluß unterbrochen. Dann öffnete Hedda den Beutel und nahm zahlreiche Tupfer, Verbandszeug und verschiedene Schmerz- und Beruhigungsmittel heraus. Die kleine Taschenlampe ganz unten im Beutel war wesentlich stärker als ein normales Modell und verfügte über einen justierbaren Strahl. Hedda wischte sich die Hände mit einem alkoholgetränkten Tuch ab, um sie so gut wie möglich zu säubern. Ihre rechte Hand schloß sich um die Stablampe, und sie überprüfte die Lebenszeichen des Jungen. Der Puls ging langsam, war aber deutlich zu spüren. Seine Haut war schrecklich bleich. Wenn es noch nicht zu spät war, war es zumindest sehr knapp.
Die Kugel hatte ihn fünfzehn Zentimeter über der Kniescheibe getroffen und den Oberschenkel glatt durchschlagen. Das bedeutete, daß sie nicht einmal, sondern zweimal nähen mußte, doch zumindest brauchte sie keine Kugel zu entfernen. Immerhin etwas. Hedda säuberte die Wunde und griff zur Nadel. Sie wollte dem Jungen in seinem geschwächten Zustand kein Sedativum verabreichen. Falls er zu sich kommen sollte, blieb ihr zwar keine andere Wahl, doch bis dahin würde sie auf seine Bewußtlosigkeit als Anästhesie hoffen. Sie war erschöpft und mußte alle Willenskraft aufbringen, um die Wunden zu nähen. Dann verband sie das Bein. Christophers Gesichtsfarbe kehrte allmählich zurück. Er stöhnte leise. Hedda streichelte dem Jungen über die Stirn.
Abrupt zog sie die Hand zurück. Irgendwo in ihr hatte sich wieder die Erinnerung an einen anderen Jungen gerührt. Ein anderer Junge, der erschossen worden war, ein anderer Junge, dessen Blut sie befleckt hatte. Die Erinnerung kam mit dem überwältigenden Nachdruck, mit dem man sich mitten am Tag plötzlich an einen Traum erinnerte, den man kurz vor dem Aufwachen gehabt hatte.
Das Geräusch eines Schusses, eine Kugel, die einen Schädel zerfetzte und Gehirn und Knochen mit sich riß. Die Erinnerung verblich und wurde erneut durch Gedanken an ihren Großvater ersetzt. Sie hatte ihm mit den Kühen geholfen, sie gemolken und gefüttert. Der Hof war abgeschieden und lag weit entfernt von der Stadt; daher waren die Tiere ihre besten Freunde geworden. Da war ein Pferd, das nur sie reiten konnte, und ein blinder Hund, der sein Gnadenbrot bekam und die meiste Zeit schlafend am Fuß ihres
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