Die Neunte Gewalt
Harrison Leeds umklammerte mit den Händen die Tischplatte. Er wartete darauf, daß eine der acht Gestalten am Tisch etwas sagte, doch alle schwiegen.
»Was denn, meine Freunde, keine Kommentare? Keine Glückwünsche, kein Lob? Aber nein. Ich verstehe. Ihr seid so voller Bewunderung für meine Pläne, daß es euch die Sprache verschlagen hat. Denn schließlich werde ich vollbringen, wobei ihr gescheitert seid. Ihr alle habt versucht, ein Reich zu gründen, das auf euern persönlichen Träumen beruhte, doch am Ende wurdet ihr alle besiegt. Beim neunten Reich, bei der neunten Gewalt, wird es anders sein, denn ich habe beschlossen, die Welt in das zu verwandeln, was sie eigentlich schon immer sein sollte, und ich habe die Möglichkeit gefunden, meine Ziele auch zu verwirklichen.«
Leeds erhob sich langsam, schritt dann zur rechten Seite des Tisches und musterte die Gestalten genau, als erwarte er, daß sie jetzt etwas sagten. Doch sie blieben noch immer stumm. Die Gestalten, die Leeds hier versammelt hatte, waren Wachsfiguren ehemals großer Befehlshaber und Visionäre, von Caesar und Dschingis Khan über Karl den Großen bis hin zu Napoleon und Hitler. Das waren die einzigen Führer, von denen Leeds der Ansicht war, sie kämen ihm an Entschlossenheit und Wesensart gleich.
Leeds blieb bei der letzten Gestalt auf der rechten Seite stehen. »Du, Dschingis Khan, hättest ganz Asien beherrschen können, den Orient und die Welt darüber hinaus. Doch deine Gewalttätigkeit schreckte deine engsten Gefolgsleute ab, und du bezahltest mit dem Leben dafür.«
Die Wachsfigur von Dschingis Khan erhob keine Einwände und rührte sich nicht. Andrew Harrison Leeds ging weiter.
»Und du, Alexander, wurdest Opfer deiner eigenen Mäßigung und Zufriedenheit. Du glaubtest, du hättest genug erobert, und das, worauf du verzichtet hast, wurde zur Saat deines Untergangs.«
Leeds berührte die Wachsschulter der nächsten Figur. »Ah, Caesar, auf der Schwelle großer Errungenschaften von deinen eigenen Leuten umgebracht, von denen, die du für deine engsten Verbündeten hieltest. Du hast sie zu nahe an dich herankommen lassen, denn Männer wie du und ich, wir können uns solchen Luxus nicht leisten.«
Er ging zu einer Figur in Uniform mit glatt zurückgekämmtem Haar und einem kleinen Schnurrbart weiter. »Adolf Hitler. Gerade bei dir verstehe ich nicht, daß du gescheitert bist, und doch war es so, nachdem du eine Herrschaft angetreten hattest, die beinahe den Lauf der Geschichte verändert hätte. Aber die Besessenheit hat dich zu Fall gebracht. Du hast nur ausgewählte Bilder durch einen Tunnel gesehen, den du dir selbst geschaffen hast, aber nicht das ganze Bild, und das hat dich vernichtet.«
Andrew Harrison Leeds' Blick streifte die verbleibenden vier Figuren, doch er sprach sie nicht an, während er an Katharina der Großen und dem Hunnen Attila vorbei zum Kopf des Tisches zurückging.
»Euch allen muß ich zugute halten, daß ihr die Welt nach eurer eigenen Vorstellung gestalten wolltet. Doch am Ende war es der Irrtum in eurer Vision, der euch scheitern ließ. Aber mit dem neunten Reich, mit der neunten Gewalt, wird es anders sein.« Leeds hielt inne und atmete tief ein. »In den drei Monaten nach dem ersten September werden die Vereinigten Staaten sich in eine Einöde verwandelt haben. Mindestens fünfundneunzig Prozent der Bevölkerung werden sterben, ohne daß bei den Gebäuden und der Technologie des Landes der geringste Schaden entsteht. Kein nuklearer Fallout, keine biologischen Giftstoffe, die die Luft verseuchen – keine so krassen, endgültigen Einschnitte. Ich werde erben, was vom Land übrigbleibt, und es zu meinem Reich schmieden und mit denen bevölkern, die ich für würdig erachte. Der Rest der Welt wird kurz darauf folgen, ohne sich der Springflut widersetzen zu können, die ich hervorrufe.
Mein neuntes Reich wird von den Ausgestoßenen bevölkert werden, von jenen, die die Gesellschaft gemieden hat und die ihrerseits die Gesellschaft gemieden haben. Von Gefangenen, die tief in ihrem Innern nach einer Freiheit dürsten, die es ihnen erlaubt, ihre Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen ohne Entfremdung und Bestrafung befürchten zu müssen. Es wird ihre Welt sein, und sie können nach ihrem Gutdünken mit ihr verfahren.«
Leidenschaft erfüllte Andrew Harrison Leeds' Gesicht. In seinen Augen standen Tränen.
»Ich empfinde Mitgefühl für euch, die ihr nicht mehr miterleben konntet, wie eure Visionen
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