Die Neunte Gewalt
und ging zum Treppenhaus, um es ein Stockwerk tiefer fortzusetzen.
»Auf dieser Etage gibt es nur Standardzimmer«, sagte Lauren Talley, während sie das Treppenhaus hinuntergingen. Sie blätterte den Notizblock um. »Erwachsene Patienten, die wegen Untersuchungen, Tests, kleiner Eingriffe oder orthopädischer Operationen eingeliefert worden waren. Hier ist auch die Abteilung Physikalische Therapie untergebracht. Insgesamt fünfunddreißig Räume, sechsundzwanzig Doppel- und neun Einzelzimmer. In zwei Einzelzimmer war vorübergehend ein zweites Bett gestellt worden.«
Er öffnete die Tür direkt vor ihr und blickte ins blutbespritzte Schwesternzimmer.
»Drei Schwestern hatten Nachtschicht«, führte Lauren Talley aus. »Eine machte gerade die Runde, die beiden anderen waren hier. Wir sind fast sicher, daß eine von ihnen noch den Alarmknopf drücken konnte, als sie ihn sah. Nur eine winzige Berührung, bevor er sie erwischte, aber genug, um den Wachmann unten aus seinem Nickerchen zu reißen.«
Ihr Blick glitt den Korridor entlang, und Kimberlain drehte sich ebenfalls zum Fahrstuhl um. Der Boden davor war von einer großen, dunkelroten Pfütze bedeckt. Auch auf der Doppeltür des Lifts entdeckte er Blutflecken.
»Eine Automatik«, sagte Talley. »Bis zu zehn Schuß, schallgedämpft. Nachdem er die Schwestern umgebracht hatte, muß er gehört haben, daß der Fahrstuhl kam, und hat in aller Ruhe abgewartet, wer aussteigen würde.«
»Er muß auf mehr als nur das gewartet haben.«
»Wie bitte?«
»Das Blut auf den äußeren Türen. Er muß dem Wachmann genug Zeit gegeben haben, um die Kabine zu verlassen und wahrscheinlich sogar seine Waffe zu ziehen.«
Die Augen Lauren Talleys wurden größer. »Er hielt sie noch in der Hand, als wir ihn fanden. Wir haben angenommen …«
»Was?«
»Daß es ihm fast noch gelungen wäre, einen Schuß abzugeben.«
»Keine Chance. Tiny Tim wollte sich etwas Spaß gönnen.«
»Aber der Knall eines Schusses hätte alles aufs Spiel gesetzt, Patienten wären aufgewacht und hätten nach ihren Telefonen gegriffen.«
»Er geht niemals ein Risiko ein. Was ist mit den Schwestern?«
»Die beiden im Stationszimmer wurden erschossen, und eine wurde nach Eintritt des Todes verstümmelt, aber erst, wie wir vermuten, nachdem er mit dem Rest des Stockwerks fertig war.«
Das kam Kimberlain bekannt vor. »Auch in Daisy wurde jemand verstümmelt. Sie sollten eine Autopsie der verbrannten Leichen von Dixon Springs anordnen.«
»Das habe ich bereits. Wir sind noch dabei. Bislang noch keine eindeutigen Ergebnisse.«
»Angenommen, er hat auch dort jemanden verstümmelt … Wessen Häuser hat er in Dixon Springs angezündet?«
»Sie wollen Namen?«
»Wenn Sie sie nicht greifbar haben, genügen mir für den Augenblick allgemeine Beschreibungen.«
»Ein Ehepaar, die Gäste einer Pension, ein …«
»Bleiben wir bei dem Ehepaar, in Daisy war es auch eine Familie, oder?«
Lauren Talley nickte. »Einschließlich der Kinder.«
Kimberlain trat näher an die ehemals weiße Theke. Ein Großteil des Blutes war auf Klemmbretter mit den Krankheitsblättern der Patienten gespritzt, als habe Tiny Tim nicht nur die Menschen selbst ausmerzen wollen, sondern auch das, was sie hierher gebracht hatte.
»Nur die eine Schwester?« fragte er.
»Ja.«
»Noch jemand in den unteren Stockwerken?«
»Nein.«
»Seltsam.«
»Wieso?«
»Angenommen, in Dixon Springs hat er die Feuer gelegt, um die Verstümmelung dieses Ehepaars zu vertuschen. Dann hat er es in Daisy auf eine ganze Familie abgesehen und hier schließlich auf eine einzige Krankenschwester. Das stimmt nicht mit seiner Denkweise überein.« Kimberlains Gedanken kehrten zum hiesigen Tatort und den vordringlichen Problemen zurück. »Was ist auf dieser Etage noch passiert?«
»Es hat sich zu einer ziemlichen Schweinerei entwickelt. Er hatte nicht mit der dritten Schwester gerechnet, und sie tauchte anscheinend zur falschen Zeit auf. Den Verdrehungen ihres Mundes zufolge konnte sie wahrscheinlich noch einen Schrei ausstoßen, der wohl einige Patienten geweckt hat. Tiny Tim ermordete erst die Schwester und dann mit demselben Gewehr, das er bei den anderen Krankenschwestern und dem Wachmann benutzte, die aufgewachten Kranken. Dann machte er den anderen Patienten schnell ein Ende.«
»Mit Giftgas?«
»Woher wissen Sie das?«
»Der Geruch. Jetzt ist er fast erträglich. Jemand muß die Fenster geöffnet haben.«
»Es ging nicht anders. Die
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