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Die Neunte Gewalt

Titel: Die Neunte Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Land
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lebendig wie die Taten selbst.
    Im zweiten Stock hielten sich Kinder auf! Kinder!
    Etwas in ihm rührte sich so gewaltig, daß er spürte, wie sein Herzschlag und Atem schneller gingen. Er blieb an der Tür stehen und lehnte sich dann gegen den Rahmen, um den Augenblick auszukosten. In seinem derzeitigen Zustand hätte ein einziger Ruck mit der Schulter genügt, um sie aufzubrechen, doch Tiny Tim konnte sich gerade noch beherrschen. Auf diesem Stock konnte nichts schiefgehen; hier gab es keine Ablenkungen, die ihm das Vergnügen nehmen würden. Er griff nach der Klinke und drückte sie mehrmals hinunter, ohne die Tür zu öffnen. Dann schlug er laut gegen den Stahl.
    »Hallo?« rief er. »Hallo? Ist da jemand?«
    Da er meistens allein war, sprach er fast nie, und der Klang seiner eigenen Stimme war ihm nun fremd.
    »Komme schon«, erwiderte die Stimme einer Schwester.
    Tiny Tim rüttelte wieder an der Klinke. »Die Tür klemmt«, sagte er zu der Krankenschwester.
    »Einen Augenblick«, erwiderte sie vertrauensvoll. Und dann wurde die Tür nach innen aufgezogen, und Tiny Tim griff an die Stelle, von der er wußte, daß sich dort ihr Gesicht befinden würde.
    Seine gewaltige rechte Pranke bedeckte es vom Kinn bis zur Stirn. Die Frau versuchte zu schreien, um sich zu schlagen oder zu treten, doch er riß sie hoch und hielt sie fest, während ihre Beine durch die Luft stampften. Dann zog er sie ins Treppenhaus und rammte ihren Kopf gegen die Wand. Sie gab nach, und Putz rieselte hinab. Er schlug noch einmal zu, und die Glieder der Frau verkrampften sich fürchterlich, als ihr Schädel brach. Sie zuckte noch immer, als er sie fallen ließ und den zweiten Stock betrat. An dieser Stelle gerieten seine Erinnerungen durcheinander. Er sah ohne jede besondere Ordnung Zimmer und Gesichter vor sich. Die meisten Kinder schliefen, als er sich ihnen näherte. Das erste tötete er schnell und leise, doch bei den nächsten vergewisserte er sich, daß sie wach waren, bevor er ihnen das Leben stahl. Auf diese Art konnte er den Ausdruck ihrer Augen sehen, während die kühne Hoffnung der Jugend, die bislang allem widerstanden hatte, was sie an diesen Ort der Krankheiten geführt hatte, für immer ausgelöscht wurde. Kinder zeigten Furcht auf ganz andere Art und Weise als Erwachsene, klammerten sich vielleicht an dieselbe jugendliche, unverwüstliche Hoffnung, daß es für sie so nicht enden konnte. Erst in den letzten Sekunden begriffen sie endlich mit befriedigender Traurigkeit, wie ihnen geschah.
    Es war viel zu schnell vorbei. Doch als Tiny Tim aus dem letzten belegten Zimmer auf den Gang trat, hörte er ein Geräusch. Ein gedämpftes Pfeifen, das irgendwo vor ihm erklang.
    Ein Weinen.
    Mit einem verkniffenen Lächeln ging Tiny Tim weiter zur Säuglingsstation.
    »Lassen Sie mich das beurteilen«, hatte Kimberlain zu Lauren Talley gesagt, bevor er vor ihr ins Treppenhaus getreten war.
    »Die Pädiatrie und Entbindungsstation«, sagte sie hinter ihm.
    Der Fährmann blieb stehen und verharrte für einen Augenblick zwischen den Stockwerken und Welten.
    »Gehen Sie weiter«, drängte sie ihn. »Sie müssen sich selbst ein Bild machen, nicht wahr?«
    Kimberlain drehte sich zu ihr um, sagte aber nichts.
    »Ich habe Sie studiert, Jared. Ich habe jeden einzelnen Ihrer Fälle studiert, und jedes einzelne Ungeheuer, das Sie erwischt haben. Aber bis heute abend, bis jetzt, habe ich weder Sie noch diese Monstren wirklich verstanden. Und vor Ihnen habe ich fast genauso viel Angst wie vor dem Ungetüm, das dies hier getan hat.«
    »Bedauern Sie es jetzt, daß Sie zu mir nach Vermont gekommen sind, Lauren?«
    »Ich fühle mich jetzt einfach viel älter als damals.«
    »Und dafür wollen Sie mir auch die Schuld geben, genau wie für das, was sich hier zugetragen hat. Sie brauchen etwas, worauf Sie all Ihren Haß und all Ihre Furcht konzentrieren können.« Er trat zwei Schritte an sie heran. »Wachen Sie auf, Lauren. Wachen Sie auf und riechen Sie das Blut. Das ist die Wirklichkeit, und sie deckt sich nicht immer mit den Lehrbüchern, der Ausbildung, den Berichten und der Karriereleiter. Das ist die Wirklichkeit, und ich lebe darin. Sie sind voller Ehrgeiz nach Vermont gekommen. Ich helfe Ihnen, Tiny Tim zu fassen, und Sie machen Punkte bei Ihren Vorgesetzten. Werden vielleicht sogar Abteilungsleiterin. Die erste Frau in dieser Position. Berichtigen Sie mich, falls ich mich irre.«
    Sie machte sich gar nicht erst die Mühe.
    »Tja, Lauren, Sie

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