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Die Neunte Gewalt

Titel: Die Neunte Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Land
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glauben vielleicht, Sie könnten sich auf Ihren tollen Job etwas einbilden. Sie erstellen Persönlichkeitsprofile, Charakterstudien und so weiter. Aber wenn ich durch diese Tür zur zweiten Etage trete, dann suche ich nach Spuren der Person selbst. Und ich finde diese Spuren, weil ich mich in die Köpfe dieser Leute versetzen und genauso pervers wie sie denken kann. Sie haben gesagt, Sie hätten das vorher nicht verstehen können. Herzlichen Glückwunsch. Sie sind gerade erwachsen geworden. Vielleicht sind Sie eines Tages sogar imstande, es selbst einmal zu versuchen.«
    »Bitte«, erwiderte sie voller Abscheu.
    »Bitte«, wiederholte Kimberlain. »In Vermont haben Sie dieses Wort nicht benutzt, aber ich habe es trotzdem getan. ›Bitte helfen Sie mir, Tiny Tim zu schnappen. Bitte helfen Sie mir, für das FBI die Kastanien aus dem Feuer zu holen, denn das ganze Land lebt in Angst. Bitte helfen Sie mir, Abteilungsleiterin zu werden.‹ Jetzt helfe ich Ihnen, und Sie mögen nicht, was Sie dabei erleben.«
    »Es … tut mir leid.«
    »Nein, tut es nicht. Und wenn Ihnen überhaupt etwas leid tut, dann nur, sich überhaupt mit Quantico eingelassen zu haben. Aber das war zu erwarten. Bitten Sie um Ihre Versetzung, wenn die Sache vorbei ist. Ich gebe Ihnen ein Empfehlungsschreiben für Ihre Vorgesetzten.«
    »Sie sind wütend.«
    »Da haben Sie verdammt recht.«
    »Aber nicht nur auf mich.«
    »Es ist wegen ihm, Lauren. Wegen Tiny Tim. Er steckt jetzt in meinem Kopf, und damit wurde er zu einem Teil von mir. Ich verabscheue das. Aber ich kann ihn lediglich wieder loswerden, indem ich ihn finde.«
    Lauren Talley schritt langsam die Stufen hinab, bis sie Kimberlains Gesicht, das im Halbdunkel gelegen hatte, wieder deutlich ausmachen konnte. »Die Jahre vor Ihren Rückzahlungen sind in Ihrer Akte völlig leer …«
    »In irgendeiner Datenbank des FBI müßten Sie etwas darüber finden können.«
    »Ich nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe nicht die Zugriffsbefugnisse.«
    »Ich habe getan, was diese Ungeheuer tun«, sagte er. »Auf Befehle hin.«
    »Oh«, machte sie.
    »Und jedesmal, wenn ich mir solch einen Tatort ansehe, kommt alles zurück. Ich werde es erst los, wenn all diese Ungeheuer fort sind. Aber dazu wird es niemals kommen. Das ist die Wirklichkeit, und deshalb haben Sie plötzlich Angst vor mir. Es tut mir leid, Lauren. Wirklich. Ich habe in Vermont versucht, es Ihnen begreiflich zu machen, aber Sie wollten nicht locker lassen. Und nun kennen Sie die Wahrheit.«
    »Wir machen lieber weiter«, sagte sie und ging voraus. Ihr Atem hatte sich wieder beruhigt.
    Kimberlain folgte ihr die letzten Stufen hinab. Zwei Meter über dem Boden markierte ein Blutfleck einen tiefen, ovalen Riß in der Wand.
    »Die Krankenschwester, nicht wahr?«
    »Er hat sie irgendwie hinausgelockt«, bestätigte Lauren Talley. »Sie hatte als einzige Dienst. Die Nachtschwester der Säuglingsstation machte gerade Pause und war unten in der Cafeteria. Damit konnte er ganz nach Belieben schalten und walten.«
    Die Tür öffnete sich knirschend, und sie betraten die Entbindungsstation mit angeschlossener Kinderklinik. Kimberlain ging langsam den Korridor entlang und an den Zimmern vorbei, ohne eins zu betreten oder auch nur hineinzuschauen. Talley blieb etwas zurück; sie fürchtete sich davor, ihm zu nahe zu kommen. Erklärungen waren überflüssig; die Spuren verrieten genug.
    »Er hat ein Weinen gehört«, sagte der Fährmann plötzlich. »Als er fertig war, trat er aus dem letzten Zimmer und hörte plötzlich, wie ein Kind weinte.«
    »Bis hierher achtunddreißig Leichen in diesem Stockwerk«, führte die FBI-Agentin aus. »Mit der Schwester im Treppenhaus neununddreißig.«
    »Wie alt?«
    »Spielt das wirklich eine Rol …«
    »Wie alt?«
    Lauren Talley blätterte wieder ihren Notizblock um. »Zwischen vier und fünfzehn Jahren. Zweiundzwanzig Mädchen, sechzehn Jungen. Wir haben ihre Krankenberichte, wenn Sie sie sehen wollen …«
    »Ich will die Säuglingsstation sehen, Lauren.«
    Es war fast zuviel für Garth Seckle. Als er dort am Fenster stand, hatte er den Eindruck, die Babys gehörten ihm. Schließlich konnte er ja mit ihnen verfahren, wie es ihm beliebte. Mehr als alle andere in dieser Nacht waren sie seiner Gnade ausgeliefert, weil sie ganz einfach nicht begreifen konnten, was er war. Als er durch die Tür trat, weinten die, die schon geweint hatten, weiter. Die, die schliefen, schliefen weiter. Sie mochten seine Gegenwart

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