Die Neunte Gewalt
Giftkonzentration war noch zu hoch, als wir hier eintrafen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie er das Gas eingesetzt hat?«
»Kanister. Er war so freundlich, sie für uns zurückzulassen.«
»Ich möchte sie gern sehen.«
»Es sind Kanister der Marke Eigenbau. Sie stammen nicht aus Armeeverkäufen, und mit ihrer Hilfe werden wir ihn wohl kaum aufspüren.«
»Dann sind Sie sich nicht mehr so sicher, daß Sie nach einem Soldaten suchen, Lauren?«
»Wie Sie es schon gesagt haben, er ist etwas anderes, etwas …«
»Mehr?«
»Ja, wenn wir bei Ihrem Ausdruck bleiben wollen.«
»Und wie würden Sie es ausdrücken? Sie haben seine Arbeit jetzt aus erster Hand gesehen. Glauben Sie immer noch, es mit einem Menschen zu tun zu haben?«
»Ich glaube nicht an Ungeheuer, Mr. Kimberlain.«
»Wahrscheinlich glauben Sie auch nicht an den Weihnachtsmann. Aber wenn Sie ihn mit seinem Schlitten und allem Brimborium auf Ihrem Dach sähen, würden Sie es sich vielleicht noch mal überlegen.«
»Niemand hat Tiny Tim gesehen, Sie auch nicht.«
»Aber ich habe Peet, Leeds und vielleicht ein halbes Dutzend weitere gesehen.«
»Keiner von denen hat so abscheuliche Taten begangen.«
»Oh, sie wären dazu durchaus fähig gewesen. Sie haben einfach darauf verzichtet. Das Töten war für sie eine viel persönlichere Angelegenheit; daher auch das Vergnügen an ihren Taten, Tiny Tim geht die Sache distanzierter an, wie eine Schießübung. Ich bezweifle, daß er seine Opfer überhaupt für Lebewesen hält. Zumindest nicht für würdige.«
»Würdig wessen?«
»Dieselbe Existenzebene einzunehmen wie er. Er geht das Töten genauso an, wie Sie und ich Fliegen totschlagen. Die Tat hat keine Bedeutung für ihn, genausowenig wie seine Opfer.«
»Nein«, sagte Lauren Talley. »Gerade haben Sie noch behauptet, er fände Vergnügen daran.«
»Das heißt aber noch nicht, daß sie eine Bedeutung für ihn hat. Die Tat rechtfertigt sich aus sich selbst. Je mehr er tötet, desto mehr muß er töten, um die Vorstellung aufrechtzuhalten, er täte das Richtige. Nur …«
»Nur was?«
Kimberlain schaute plötzlich unsicher drein. »Deshalb passen die Verstümmelungen nicht ins Schema, besonders nicht, wenn er wie in Dixon Springs versucht hat, sie zu vertuschen.«
»Haben Sie irgendeine Vermutung?«
»Im Augenblick nicht, Lauren. Im Augenblick will ich nur den zweiten Stock sehen.«
»Nein«, erwiderte Talley. »Das wollen Sie nicht.«
25
Als Tiny Tim die Tür erreichte, die vom Treppenhaus in die zweite Etage führte, lief er auf Hochtouren. Nicht nur, daß ihm die Arbeit mit dem eigentlichen Ziel brillant von der Hand gegangen war, auch das Erscheinen einiger Patienten auf den Gängen hatte ihn vor eine gewisse Herausforderung gestellt. Angenommen, einer von ihnen hätte laut geschrien und die tieferliegenden Stockwerke davor gewarnt, was sie erwartete … Zweckmäßigkeit war gefordert, Präzision, damit es nicht zu einer Entdeckung und einer möglichen Katastrophe kam. Sein Herz hämmerte noch immer in der Brust, als er die Treppe hinablief.
Er fühlte sich geläutert, erfrischt. Er hatte seine Mission vollendet. Nun konnte er sich Zeit lassen und den Rest seines Besuchs auskosten, es so langsam angehen lassen wie in den Städten. Die Städte waren besonders erfüllend, ja sogar bereichernd gewesen. Jedes Haus hatte eine neue Herausforderung dargestellt, war mit seinem eigenen Geruch, seinem eigenen Leben erfüllt gewesen. Der Akt des Tötens erneuerte sich immer wieder, während er von einem zum nächsten ging. Die Vielfalt war beeindruckend, die Herausforderung ständig vorhanden. Die dritte Etage des Krankenhauses war anfangs zumindest vergleichbar damit gewesen, hatte dann jedoch ihre Versprechungen nicht erfüllen können. Seine Opfer hier schienen nicht mehr als blasse Abziehbilder voneinander zu sein. Die Zimmer waren identisch, wie auch die Kleidung derjenigen, deren Lebenslicht er auslöschte. Daraus resultierte das Gefühl, ein und dieselbe Tat immer wieder neu zu begehen, anstatt seine Erfahrungen zu erweitern und die nächste Tat auf der vorherigen aufzubauen. Doch als er durch die Tür zum zweiten Stock trat, stellte sich augenblicklich das Gefühl ein, daß die Dinge sich hier beträchtlich zum Besseren wenden würden.
Garth Seckle erschauderte in der Nacht, und es raschelte in den Büschen in seiner Nähe. In seiner Vorstellung war der Himmel in diesem Augenblick blutrot, und seine Erinnerung an die nächsten Taten war so
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