Die Neunte Gewalt
Schrift vollgekritzelt waren.
»Er ist hier hereingekommen«, begann Talley und schlug die vierte Seite ihrer Aufzeichnungen auf, »und hat der Schwester einmal in den Kopf geschossen. Dann hat er zwei Wachtposten mit jeweils einem Schuß in die Brust und einem in den Leib getötet. Eine Automatikwaffe mit Schalldämpfer. Wir haben keine Patronenhülsen gefunden. Dann begab er sich zum« – Talley blätterte eine Seite um – »zum vierten Stock.«
»Er hat von oben nach unten gearbeitet«, sagte Kimberlain. »Das ergibt Sinn. Es ist wahrscheinlicher, von jemandem überrascht zu werden, der hinunterkommt, als von einem, der hinaufgeht.«
Lauren Talley hatte die Treppe erreicht. »Er hat das Treppenhaus benutzt. Das Schwesternzimmer in der vierten Etage war zu diesem Zeitpunkt nicht besetzt«, fuhr sie fort, während sie die Treppe hinaufstiegen. »Die wachhabende Schwester überprüfte gerade einen Herztonmesser, der sich gelöst hatte. Die Oberschwester verteilte Medikamente.«
»Eine gute Schlußfolgerung«, sagte Kimberlain.
Talley musterte ihn ernst. »Keine Schlußfolgerung. Wir haben ihre Leichen in den jeweiligen Räumen gefunden.«
Kimberlain zog die Tür auf, die in den vierten Stock führte.
»Auf dieser Etage lagen zweiundzwanzig Patienten, jeweils zwei in elf Doppelzimmern«, sagte Lauren Talley, als sie ihm folgte. »Acht Zimmer waren nicht belegt. Wir haben keine Beweise dafür, daß er die leeren Räume betreten hat.«
»Die Namensschilder an den Türen«, sagte Kimberlain und deutete auf das an der Tür neben dem Fahrstuhl. »Sie befinden sich nur an den belegten Zimmern. Die reinsten Einladungen für unseren Jungen.«
»Auf dieser Etage waren nur ältere Patienten untergebracht, viele davon bettlägerig oder gebrechlich. Sie hätten kaum Widerstand leisten können, selbst wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen hätten.«
Kimberlain nickte leicht. »Tiny Tim ist kein Sportsmann. Das Töten ist für ihn gleichzeitig Mittel und Zweck. Er muß nicht erst motiviert werden; jeder Mord ist für ihn schon Motivation genug für den nächsten. Er stellt sich die nächste Tat vor, während er die derzeitige noch begeht. Mit anderen Worten, die Person, die er gerade tötet, bedeutet ihm nichts im Vergleich zu der, die er als nächste töten wird. Und so weiter und so fort.« Der Fährmann zögerte. »Das ist eine perfekte Beschreibung seiner Persönlichkeit.«
»Inwiefern?«
»Er ist niemals zufrieden. Ganz gleich, wie viele Menschen er tötet, er denkt immer an das nächste Opfer, bis es keine Opfer mehr gibt. Er macht das genauso automatisch wie Sie oder ich atmen.«
»Lassen Sie mich doch mit diesem Psycho-Scheiß in Ruhe«, brauste Lauren Talley auf.
»Wenn Sie nicht lernen, ihn zu verstehen, werden Sie ihn niemals schnappen, Lauren. Wenn Sie ihn jemals fassen wollen, müssen Sie begreifen, wie er denkt.«
Talley nickte und dachte darüber nach, doch Kimberlain fuhr schon fort. »Und jetzt zeigen Sie mir, wo er auf diesem Stockwerk angefangen hat.«
Das Krankenhaus war ein Mikrokosmos der beschissenen Welt, die ihn verschmäht hatte. Garth Seckle kam es viel ordentlicher vor als die Städte, die er bislang besucht hatte. Die alten Menschen waren im obersten Stockwerk, als hätten sie ihr ganzes Leben lang gebraucht, um dort hinaufzusteigen, und kämen nun nie wieder hinab. Er haßte sie, haßte den durchdringenden Geruch des langsamen Todes, der auf ihn eindrang, als er das Treppenhaus verließ. Er hörte das Summen einiger weniger Fernsehgeräte und das Stöhnen und Schluchzen derjenigen, die für leichte Unterhaltung nicht mehr empfänglich waren. Der wahre Grund seines hiesigen Besuchs lag eine Etage tiefer, doch Seckle mußte sein Zeichen hinterlassen und deshalb hier oben beginnen.
Tiny Tim ging von Zimmer zu Zimmer und benutzte niemals dieselbe Methode zweimal. Schließlich wurde sein Einfallsreichtum auf die Probe gestellt, besonders, als er einen alten Knacker umbrachte, ohne dessen Zimmergenossen aufzuwecken. Er brach ein Genick, zertrümmerte eine von altersfleckiger Haut bedeckte Luftröhre und erstickte einen Patienten unter einem Kissen.
Im Gegensatz zu den früheren Morden erfrischten diese hier ihn nicht. Er fühlte sich leer, nicht ausgefüllt. Tiny Tim wollte die Sache schnell beenden, wollte weiter und sich um den wahren Grund dieses Besuches kümmern, damit er den Rest der Nacht noch genießen konnte. Er beendete sein Werk auf der vierten Etage so schnell wie möglich
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