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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Gedanke führte zum anderen, und als das Thema erschöpft war, entdeckte ich, dass ich den größten Teil des Vormittags vergeudet hatte.
    Es war halb zwölf geworden – die Stunde der Post –, und ich machte im Fahrstuhl meinen rituellen Ausflug nach unten, um zu sehen, ob etwas in meinem Briefkasten war. Dies war immer ein entscheidender Augenblick für mich, und es war mir nicht möglich, ihm ruhig entgegenzusehen. Es bestand immer die Hoffnung, dass dort eine gute Nachricht auf mich wartete – ein unerwarteter Scheck, ein Arbeitsangebot, ein Brief, der irgendwie mein Leben verändern würde –, und allmählich hatte ich diese Erwartung so sehr verinnerlicht, dass ich kaum meinen Briefkasten sehen konnte, ohne dass mir das Blut zu Kopf stieg. Das war mein Versteck, der eine Ort auf der Welt, der ganz mir gehörte. Und doch verband er mich mit der übrigen Welt, und in seiner magischen Dunkelheit lag die Kraft, Dinge geschehen zu lassen.
    An diesem Tag bekam ich nur einen Brief, in einem einfachen weißen Umschlag mit dem New Yorker Poststempel und ohne Absender. Die Handschrift war mir unbekannt (mein Name und meine Adresse waren in Blockschrift geschrieben), und ich konnte nicht erraten, von wem er war. Ich öffnete den Umschlag im Aufzug – und dort, auf dem Weg zum neunten Stock, fiel die Welt über mir zusammen.
    «Sei mir nicht böse, dass ich dir schreibe», begann der Brief. «Auch auf die Gefahr hin, dass du einen Herzanfall bekommst, wollte ich dir ein letztes Wort schicken – um dir für alles zu danken, was du getan hast. Ich wusste, dass du der Mensch bist, den ich darum bitten konnte, aber es ist alles noch besser gekommen, als ich erwartet hatte. Du hast mehr getan als das Mögliche, und ich stehe in deiner Schuld. Sophie und das Kind sind in guten Händen, und deshalb kann ich mit einem reinen Gewissen leben.
    Ich werde mich hier nicht erklären. Trotz dieses Briefes möchte ich, dass du mich weiterhin für tot hältst. Nichts ist wichtiger als das, und du darfst niemandem sagen, dass du von mir gehört hast. Ich will nicht gefunden werden, und davon zu sprechen, würde nur zu mehr Schwierigkeiten führen, als die Sache wert ist. Sag vor allem Sophie nichts. Sieh zu, dass sie sich von mir scheiden lässt, und heirate sie, sobald du kannst. Ich vertraue darauf, dass du das tust – und ich gebe dir meinen Segen. Das Kind braucht einen Vater, und du bist der Einzige, auf den ich mich verlassen kann.
    Ich möchte, dass du verstehst, dass ich nicht den Verstand verloren habe. Ich habe gewisse Entscheidungen getroffen, die nötig waren, und obwohl Menschen gelitten haben, war mein Fortgehen das Beste und Gütigste, was ich je getan habe.
    Sieben Jahre nach dem Tag meines Verschwindens werde ich sterben. Ich habe mich selbst verurteilt, und es gibt keine Berufung.
    Ich bitte dich, nicht nach mir zu suchen. Ich habe nicht den Wunsch, gefunden zu werden, und ich denke, dass ich das Recht habe, den Rest meines Lebens so zu leben, wie ich es für richtig halte. Drohungen sind mir zuwider – aber ich habe keine andere Wahl, als dich zu warnen: Falls es dir durch ein Wunder gelingt, mich aufzuspüren, werde ich dich töten.
    Es freut mich, dass man sich so sehr für meine Schriften interessiert. Ich hatte nie die leiseste Ahnung, dass so etwas möglich sein könnte. Aber es scheint mir jetzt alles so weit weg zu sein. Das Bücherschreiben gehört zu einem anderen Leben, und es lässt mich kalt, wenn ich jetzt daran denke. Ich werde nie versuchen, etwas von dem Geld zu beanspruchen – und ich gebe es gern dir und Sophie. Das Schreiben war eine Krankheit, die mich lange quälte, aber jetzt bin ich davon geheilt.
    Sei versichert, dass ich mich nicht mehr mit dir in Verbindung setzen werde. Du bist jetzt von mir befreit, und ich wünsche dir ein langes und glückliches Leben. Um wie viel besser ist es, dass alles so gekommen ist. Du bist mein Freund, und meine Hoffnung ist, dass du immer der sein wirst, der du bist. Bei mir ist das eine andere Geschichte. Wünsche mir Glück.»
    Der Brief war nicht unterschrieben, und während der nächsten ein oder zwei Stunden versuchte ich mir einzureden, dass er ein böser Scherz war. Warum sollte Fanshawe, wenn er ihn geschrieben hatte, es versäumt haben, ihn mit seinem Namen zu unterzeichnen? Ich klammerte mich daran als Beweis für einen Trick und suchte verzweifelt nach einem Vorwand, um leugnen zu können, was geschehen war. Aber dieser Optimismus hielt nicht

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