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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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sehr lange an, und nach und nach zwang ich mich dazu, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Es konnte eine ganze Anzahl von Gründen dafür geben, den Namen wegzulassen, und je länger ich darüber nachdachte, desto klarer sah ich, dass der Brief gerade deshalb für echt gehalten werden musste. Ein Witzbold würde besonders darauf geachtet haben, den Namen hinzuzufügen, aber die wirkliche Person würde nicht einmal darüber nachdenken. Nur jemand, der nicht darauf aus war, mich zu täuschen, konnte die Selbstsicherheit haben, einen solchen offensichtlichen Fehler zu begehen. Und dann waren da die letzten Sätze des Briefes: «… meine Hoffnung ist, dass du immer der sein wirst, der du bist. Bei mir ist das eine andere Geschichte.» Bedeutete das, dass Fanshawe ein anderer geworden war? Zweifellos lebte er unter einem anderen Namen – aber wie lebte er und wo? Der New Yorker Poststempel war vielleicht ein Hinweis, aber er konnte ebenso gut eine Täuschung sein, eine falsche Information, um mich von der Spur abzulenken. Fanshawe war äußerst vorsichtig gewesen. Ich las den Brief immer und immer wieder, versuchte ihn auseinanderzunehmen, suchte nach einer Möglichkeit, zwischen den Zeilen zu lesen – aber es kam nichts dabei heraus. Der Brief blieb undurchsichtig, ein Block von Dunkelheit, der jeden Versuch einzudringen vereitelte. Zuletzt gab ich es auf, legte den Brief in eine Schublade meines Schreibtischs und gab zu, dass ich verloren war, dass für mich nichts jemals wieder dasselbe sein würde.
    Ich glaube, was mich am meisten ärgerte, war meine eigene Dummheit. Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich, dass mir von Anfang an – schon bei meiner ersten Begegnung mit Sophie – alle Fakten bekannt gewesen waren. Jahrelang veröffentlicht Fanshawe nichts, dann sagt er seiner Frau, was sie tun solle, falls ihm etwas zustoße (mit mir Verbindung aufnehmen, dafür sorgen, dass seine Arbeiten veröffentlicht werden), und dann verschwindet er. Es war alles so offensichtlich. Der Mann wollte fortgehen, und er ging fort. Er stand eines Tages einfach auf und ging und ließ seine schwangere Frau im Stich, und weil sie ihm vertraute, weil es für sie unvorstellbar war, dass er so etwas tun könnte, blieb ihr keine andere Wahl, als zu denken, dass er tot wäre. Sophie hatte sich etwas vorgemacht. Aber was hätte sie in Anbetracht der Situation tun sollen? Ich dagegen hatte keine solche Entschuldigung. Nicht ein einziges Mal von allem Anfang an hatte ich die Zusammenhänge durchdacht. Ich hatte mich ihrer Meinung angeschlossen, hatte nur zu gern ihre Fehldeutungen übernommen, und dann hatte ich zu denken aufgehört. Es sind schon Menschen wegen kleinerer Verbrechen erschossen worden.
    Die Tage vergingen. Alle meine Instinkte sagten mir, dass ich mich Sophie anvertrauen, dass ich den Brief mit ihr teilen sollte, und doch konnte ich mich nicht dazu überwinden. Ich hatte zu viel Angst, ich wusste nicht, wie sie reagieren würde. In den Momenten, in denen ich mich stärker fühlte, sagte ich mir, dass Schweigen die einzige Möglichkeit war, sie zu schützen. Was hätte sie davon, wenn sie wüsste, dass Fanshawe sie im Stich gelassen hatte? Sie würde sich selbst die Schuld an dem geben, was geschehen war, und ich wollte nicht, dass sie verletzt wurde. Unter diesem edlen Schweigen verbarg sich jedoch ein zweites Schweigen aus Panik und Angst. Fanshawe lebte – und wenn ich es Sophie wissen ließe, was würde dann dieses Wissen mit uns machen? Der Gedanke, dass Sophie ihn vielleicht zurückhaben wollte, war zu viel für mich, und ich hatte nicht den Mut, herauszufinden, ob es so war. Das war vielleicht mein größtes Versäumnis. Wenn ich genug an Sophies Liebe zu mir geglaubt hätte, wäre ich bereit gewesen, alles zu riskieren. Aber damals schien ich keine andere Wahl zu haben, und so tat ich, was Fanshawe von mir verlangt hatte – nicht für ihn, sondern für mich selbst. Ich verschloss das Geheimnis in mir und lernte, den Mund zu halten.
    Weitere Tage vergingen, und dann bat ich Sophie, meine Frau zu werden. Wir hatten schon zuvor darüber gesprochen, aber diesmal machte ich ihr klar, dass ich es sehr ernst meinte. Mir war bewusst, dass ich aus meiner Rolle fiel (ich war humorlos, steif), aber ich konnte mir nicht helfen. Es war mir nicht mehr möglich, mit der Ungewissheit zu leben, und ich fühlte, dass ich auf der Stelle Klarheit schaffen musste. Sophie bemerkte natürlich diese Veränderung in mir, aber da sie den

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