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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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unglaublich scharf geworden, und man spürt, dass ihm ein neuer Wortschatz zur Verfügung steht, so als wäre der Abstand zwischen Sehen und Schreiben geringer geworden, als wären die beiden Handlungen nun beinahe identisch, Teile einer einzigen, ungebrochenen Gebärde. Fanshawe ist von der Landschaft fasziniert, er kommt immer wieder auf sie zurück, beobachtet sie, zeichnet endlos ihre Veränderungen auf. Seine Geduld gegenüber diesen Dingen ist überaus bemerkenswert, und es gibt Naturschilderungen in den Briefen und Notizbüchern, die so glänzend sind wie keine, die ich je zuvor gelesen habe. Das Steinhaus, in dem er wohnt (über einen halben Meter dicke Mauern), wurde während der Revolution gebaut. Auf der einen Seite liegt ein kleiner Weingarten, auf der anderen Seite eine Wiese, auf der Schafe grasen; hinter dem Haus ist ein Wald (Elstern, Krähen, Wildschweine), und vorn, jenseits der Straße, erheben sich die Felsen, die zum Dorf (vierzig Einwohner) hinaufführen. Auf diesen Felsen, verborgen in einem Dickicht von Büschen und Bäumen, stehen die Ruinen einer Kapelle, die einst den Tempelrittern gehörte. Ginster, Thymian, Zwergeichen, rote Erde, weißer Ton, der Mistral – Fanshawe lebt mehr als ein Jahr mit diesen Dingen, und nach und nach scheinen sie ihn zu verändern, ihn tiefer in sich selbst zu begründen. Ich zögere, von einem religiösen oder mystischen Erlebnis zu sprechen (diese Begriffe sagen mir nichts), aber es scheint, dass Fanshawe die ganze Zeit allein war, kaum jemanden sah, kaum den Mund aufmachte. Die Strenge dieses Lebens disziplinierte ihn. Die Einsamkeit wurde ein Weg zum Ich, ein Instrument der Entdeckung. Obwohl er damals noch sehr jung war, glaube ich, dass diese Zeit ihn zum Schriftsteller reifen ließ. Von nun an ist seine Arbeit nicht mehr nur vielversprechend – sie ist vollendet, unverwechselbar seine eigene. Angefangen bei der langen Folge der auf dem Lande geschriebenen Gedichte ( Fundamente ) und weiter durch die Stücke und Niemalsland (in New York geschrieben), ist Fanshawe in voller Blüte. Man sucht nach Spuren von Wahnsinn, nach Anzeichen für das Denken, das ihn später dazu brachte, sich gegen sich selbst zu wenden – aber das Werk enthält nichts dieser Art. Fanshawe ist zweifellos ein ungewöhnlicher Mensch, aber er ist allem Anschein nach gesund, und als er im Herbst 1972 nach Amerika zurückkehrt, scheint er sich vollkommen in der Gewalt zu haben.

    Meine ersten Antworten bekam ich von den Leuten, die Fanshawe in Harvard gekannt hatte. Das Wort Biographie schien mir die Türen zu öffnen, und ich hatte keine Schwierigkeiten, mich mit den meisten seiner Bekannten zu verabreden. Ich traf seinen Zimmergenossen im ersten Studienjahr; ich traf mehrere seiner Freunde; ich traf zwei oder drei der Radcliffe-Mädchen, mit denen er ausgegangen war. Es kam jedoch nicht viel dabei heraus. Von allen Leuten, mit denen ich sprach, sagte nur einer etwas Interessantes. Das war Paul Schiff, dessen Vater Fanshawe den Job auf dem Öltanker besorgt hatte. Schiff war nun Kinderarzt in Westchester County, und wir unterhielten uns eines Abends lange in seinem Sprechzimmer. Er hatte etwas Ernstes an sich, das mir gefiel (ein kleiner, empfindsamer Mann mit schon schütterem Haar, einem ruhigen Blick und einer weichen, volltönenden Stimme), und er sprach offen, ohne dass ich ihn drängen musste. Fanshawe war eine wichtige Person in seinem Leben gewesen, und er erinnerte sich gut an ihre Freundschaft. «Ich war ein fleißiger Junge», sagte Schiff. «Hart arbeitend, gehorsam, ohne viel Phantasie. Fanshawe war von Harvard nicht eingeschüchtert wie wir anderen alle, und ich glaube, das flößte mir Respekt ein. Er hatte mehr gelesen als sonst jemand – mehr Dichter, mehr Philosophen, mehr Romanautoren –, aber das College schien ihn zu langweilen. Er machte sich nichts aus Noten, schwänzte oft die Vorlesungen und schien einfach seinen eigenen Weg zu gehen. Im ersten Jahr wohnten wir auf demselben Korridor, und aus irgendeinem Grund erwählte er mich zu seinem Freund. Danach folgte ich ihm sozusagen wie ein Schatten. Fanshawe hatte so viele Ideen; ich glaube, ich lernte von ihm mehr als von irgendeiner meiner Vorlesungen. Es war ein schlimmer Fall von Heldenverehrung, nehme ich an – aber Fanshawe half mir, und ich habe es nicht vergessen. Er war es, der mich lehrte, eigenständig zu denken, meine Entscheidungen selbst zu treffen. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich nie Arzt

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