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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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verabschieden, und dieser Kampf ist alles, was wirklich zählt. Die Geschichte ist nicht in den Worten, sie ist im Kampf.
    Eines Abends fand ich mich in einer Bar nahe der Place Pigalle. Fand ist der Ausdruck, den ich mit Absicht wähle, denn ich habe keine Ahnung, wie ich dorthin kam, keine Erinnerung daran, dass ich das Lokal betrat. Es war eines jener Nepplokale, wie sie in diesem Viertel üblich sind: sechs oder acht Mädchen an der Bar. Gelegenheit, sich mit einem von ihnen an einen Tisch zu setzen und zu einem horrenden Preis eine Flasche Champagner zu bestellen und dann, wenn man so will, die Möglichkeit, eine gewisse finanzielle Regelung zu treffen und sich in die Einsamkeit eines Zimmers im Hotel nebenan zurückzuziehen. Die Szene setzt für mich ein, als ich mit einem der Mädchen an einem der Tische sitze und gerade den Champagnerkübel bekommen habe. Ich erinnere mich, dass das Mädchen Tahitianerin war; sie war schön, nicht älter als neunzehn oder zwanzig Jahre alt, und sie trug ein Kleid aus weißem Netz und nichts darunter, ein Gewirr von Schnüren über ihrer glatten braunen Haut. Die Wirkung war höchst erotisch. Ich erinnere mich an ihre runden Brüste, die durch die rautenförmigen Öffnungen zu sehen waren, und an die überwältigende Zartheit ihres Halses, als ich mich zu ihr beugte und ihn küsste. Sie sagte mir ihren Namen, aber ich bestand darauf, sie Fayaway zu nennen, und sagte ihr, sie sei eine Verbannte aus Taipi und ich Herman Melville, ein amerikanischer Matrose, der aus New York gekommen sei, um sie zu befreien. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon ich sprach, aber sie lächelte immerzu und hielt mich zweifellos für verrückt, als ich in meinem stotternden Französisch drauflosredete. Sie war ganz gelassen, lachte, wenn ich lachte, und erlaubte mir, sie zu küssen, wo ich wollte.
    Wir saßen in einer Nische in der Ecke, und von meinem Platz aus konnte ich den ganzen übrigen Raum überblicken. Männer kamen und gingen, manche steckten den Kopf durch die Tür und verschwanden wieder, andere blieben für einen Drink an der Bar, ein oder zwei gingen wie ich an einen Tisch. Nach etwa einer Viertelstunde kam ein junger Mann herein, der offensichtlich Amerikaner war. Er schien nervös zu sein, so als wäre er noch nie in einem solchen Lokal gewesen, aber sein Französisch war erstaunlich gut, und als er fließend einen Whisky an der Bar bestellte und anfing, mit einem der Mädchen zu sprechen, schien es mir, dass er eine Weile bleiben wollte. Ich beobachtete ihn aus meiner kleinen Nische, während ich mit der Hand Fayaways Beine streichelte und mein Gesicht an ihr rieb, aber je länger er dort stand, desto zerstreuter wurde ich. Er war groß, athletisch gebaut, hatte rotblondes Haar und eine offene, etwas jungenhafte Art. Ich schätzte ihn auf sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig – ein Student vielleicht oder ein junger Anwalt, der für eine amerikanische Firma in Paris arbeitete. Ich hatte diesen Mann nie zuvor gesehen, und dennoch hatte er etwas Vertrautes an sich, etwas, was mich den Blick nicht von ihm abwenden ließ: ein kurzes Aufflackern, eine unheimliche Synapse des Wiedererkennens. Ich probierte verschiedene Namen an ihm aus, rangierte ihn durch die Vergangenheit, rollte die Spule der Assoziationen auf – aber nichts geschah. Er ist niemand, sagte ich mir und gab schließlich auf. Und dann, ganz unvermittelt, beendete ich den Satz mit einem wirren Gedankengang, indem ich hinzufügte: und wenn er niemand ist, muss er Fanshawe sein. Ich lachte laut auf über meinen Scherz. Fayaway, immer wachsam, lachte mit mir. Ich wusste, dass nichts absurder sein konnte, aber ich sagte es noch einmal laut: Fanshawe. Und dann noch einmal: Fanshawe. Und je öfter ich es sagte, desto mehr Gefallen fand ich daran, es zu sagen. Jedes Mal, wenn das Wort aus meinem Mund kam, folgte ihm ein neues Gelächter. Ich war berauscht von dem Klang, lachte, bis ich heiser wurde, und nach und nach schien Fayaway unruhig zu werden. Sie hatte wahrscheinlich zuerst gedacht, dass ich auf eine sexuelle Praktik anspielte und einen Scherz machte, den sie nicht verstand, aber meine Wiederholungen hatten dem Wort allmählich seine Bedeutung genommen, und sie begann es als Drohung zu verstehen. Ich sah den Mann am anderen Ende des Raumes und sagte das Wort wieder. Mein Glück war unermesslich. Ich frohlockte über die eindeutige Falschheit meiner Behauptung und feierte die neue Macht, die ich mir gerade verliehen

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