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Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Gedanken in mich aufnahm, verstand ich, wie schlimm die Situation wirklich war. Ich näherte mich nun dem Ende und hatte ihn noch nicht gefunden. Der Fehler, nach dem ich suchte, hatte sich nicht gezeigt. Es gab keine Hinweise, keine Spuren, denen ich folgen konnte. Fanshawe war irgendwo begraben, und mit ihm war sein ganzes Leben begraben. Wenn er nicht gefunden werden wollte, hatte ich nicht die geringste Chance.
    Dennoch machte ich weiter und versuchte, zum Ende, zum äußersten Ende zu kommen. Ich wühlte mich blind durch die letzten Interviews, war nicht gewillt, aufzugeben, bevor ich alle gesehen hatte. Ich wollte Sophie anrufen. Eines Tages ging ich sogar aufs Postamt und stellte mich in der Schlange vor dem Schalter für Auslandsgespräche an, aber ich führte mein Vorhaben nicht aus. Mir fehlten nun ständig die Worte, und ich erschrak bei dem Gedanken, dass ich am Telefon die Nerven verlieren könnte. Was sollte ich überhaupt sagen? Ich schickte ihr stattdessen eine Postkarte mit einer Fotografie von Laurel und Hardy. Auf die Rückseite schrieb ich: «Wahre Ehen haben nie einen Sinn. Sieh dir das Paar auf der anderen Seite an. Der Beweis, dass alles möglich ist, nein? Vielleicht sollten wir anfangen, Melonen zu tragen. Denke allermindestens daran, den Schrank aufzuräumen, bevor ich zurückkomme. Küsse Ben von mir.»
    Am nächsten Nachmittag traf ich Anne Michaux, und sie zuckte zusammen, als ich das Café betrat, in dem wir uns verabredet hatten (Le Rouquet, Boulevard Saint Germain). Was sie mir über Fanshawe erzählte, ist nicht wichtig: wer wen küsste, was wo geschah, wer was sagte und so weiter. Es kam nichts Neues heraus. Was ich jedoch erwähnen möchte, ist, dass sie im ersten Moment sehr erschrocken gewesen war, weil sie mich für Fanshawe gehalten hatte. Nur ein kurzer Funke, wie sie es ausdrückte, und dann war es vorüber. Die Ähnlichkeit war natürlich schon früher bemerkt worden, aber nie so aus dem Innersten heraus, mit einer solchen unmittelbaren Wirkung. Ich ließ mir offenbar meine Reaktion anmerken, denn sie entschuldigte sich (so als hätte sie etwas Unrechtes getan) und kam während der zwei oder drei Stunden, die wir zusammen verbrachten, noch mehrere Male darauf zurück. Einmal widersprach sie sich sogar: «Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Sie sehen gar nicht aus wie er. Es muss das Amerikanische in euch beiden sein.»
    Ich war trotzdem beunruhigt, konnte nicht umhin, entsetzt zu sein. Etwas Ungeheuerliches geschah, und ich hatte keine Gewalt mehr darüber. Der Himmel wurde dunkel in mir – so viel war gewiss; der Boden bebte. Es fiel mir schwer, still zu sitzen, und es fiel mir schwer, mich zu bewegen. Von einem Augenblick zum nächsten schien ich an einem anderen Ort zu sein, zu vergessen, wo ich war. Die Gedanken hören auf, wo die Welt beginnt, sagte ich mir immer wieder. Aber das Ich ist auch in der Welt, antwortete ich, und ebenso sind es die Gedanken, die von ihm kommen. Das Problem war, dass ich nicht mehr die richtigen Unterscheidungen treffen konnte. Dies kann nie das sein. Äpfel sind keine Orangen, Pfirsiche keine Pflaumen. Man spürt den Unterschied auf der Zunge, und dann weiß man es wie im eigenen Inneren. Aber alles bekam für mich denselben Geschmack. Ich fühlte keinen Hunger mehr, ich konnte mich nicht mehr dazu überwinden zu essen.
    Was die Dedmons betrifft, gibt es vielleicht noch weniger zu sagen. Passendere Wohltäter hätte sich Fanshawe nicht aussuchen können, und von allen Leuten, die ich in Paris sah, waren sie die freundlichsten, die reizendsten. Zu einem Drink in ihre Wohnung eingeladen, blieb ich zum Abendessen, und als wir beim zweiten Gang angelangt waren, drängten sie mich, ihr Haus im Var zu besuchen – dasselbe Haus, in dem Fanshawe gelebt hatte, und es müsse kein kurzer Besuch sein, sagten sie, denn sie selbst würden nicht vor August hinfahren. Es sei ein wichtiger Ort für Fanshawe und seine Arbeit gewesen, sagte Mr. Dedmon, und es würde zweifellos meinem Buch zugutekommen, wenn ich es selbst sähe. Ich konnte ihm nicht widersprechen, und kaum hatte ich das gesagt, als Mrs. Dedmon auch schon am Telefon war und in ihrem klaren eleganten Französisch Vorbereitungen für mich traf.
    In Paris hielt mich nichts mehr, und so nahm ich am nächsten Nachmittag den Zug. Das war für mich das Ende der Linie, meine Fahrt südwärts in die Vergessenheit. Was immer für Hoffnungen ich gehegt haben mochte (die schwache Möglichkeit, dass

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