Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen

Titel: Die New-York-Trilogie: Stadt aus Glas. Schlagschatten. Hinter verschlossenen Türen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Stockwerk eines Hauses in Brooklyn Heights zu verlassen, in dem er und seine Frau sich eingerichtet hatten. Dort saß Washington Roebling viele Jahre lang jeden Tag und beobachtete den Fortschritt der Brücke durch ein Fernrohr. Jeden Morgen schickte er seine Frau mit seinen Anweisungen hinunter, und er zeichnete kunstvolle Farbbilder für die ausländischen Arbeiter, die nicht Englisch sprachen, damit sie verstanden, was sie als Nächstes zu tun hatten. Und das Bemerkenswerte war, dass er die ganze Brücke buchstäblich im Kopf hatte: Jedes Teil hatte er auswendig gelernt bis hinunter zu den winzigsten Stückchen Stahl und Stein, und obwohl Washington Roebling nie den Fuß auf die Brücke setzte, war sie in ihm vollständig gegenwärtig, so als wäre sie am Ende all dieser Jahre irgendwie in seinen Körper hineingewachsen.
    Blue denkt nun daran, während er über den Fluss geht und Black vor ihm beobachtet und sich an seinen Vater und seine Kindheit draußen in Gravesend erinnert. Der Alte war Polizist, später Detektiv im 77. Bezirk, und das Leben hätte gut sein können, denkt Blue, wenn nicht der Fall Russo gewesen wäre und die Kugel, die 1927 durch das Gehirn seines Vaters schlug. Vor zwanzig Jahren, sagt er zu sich selbst, plötzlich erschrocken über die Zeit, die vergangen ist, und er fragt sich, ob es einen Himmel gibt, und wenn ja, ob er seinen Vater wiedersehen wird. Er erinnert sich an eine Geschichte aus einem der endlosen Magazine, die er diese Woche gelesen hat, einer neuen Monatsschrift mit dem Titel Seltsamer als Dichtung , und das scheint eine Folge all der anderen Gedanken zu sein, die ihm gerade gekommen sind. Irgendwo in den französischen Alpen, erinnert er sich, wurde ein Mann vor zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren beim Skilaufen von einer Lawine verschüttet, und seine Leiche wurde nie geborgen. Sein Sohn, der damals ein kleiner Junge war, wuchs auf und wurde ebenfalls Skiläufer. Eines Tages im vorigen Jahr ging er Skilaufen; ohne es zu wissen, war er nicht weit von der Stelle, an der sein Vater umgekommen war. Durch die ständigen kleinen Verschiebungen des Eises im Laufe der Jahrzehnte sah das Gelände nun ganz anders aus als früher. Ganz allein da oben in den Bergen, weit von irgendeinem anderen menschlichen Wesen entfernt, stieß der Sohn auf einen Körper im Eis – eine Leiche, völlig unversehrt, wie im Scheintod. Selbstverständlich blieb der junge Mann stehen, um sie zu untersuchen, und als er sich bückte und der Leiche ins Gesicht sah, hatte er den deutlichen und erschreckenden Eindruck, sich selbst zu betrachten. Vor Angst zitternd, wie es in dem Artikel hieß, sah er sich die Leiche, die gleichsam im Eis versiegelt war, genauer an, wie jemanden auf der anderen Seite eines dicken Fensters, und er erkannte seinen Vater. Der Tote war noch jung, jünger als sein Sohn jetzt war, und es hatte, fand Blue, etwas Furchteinflößendes, etwas so Seltsames und Schreckliches, älter zu sein als der eigene Vater, dass er tatsächlich die Tränen zurückhalten musste, als er den Artikel las. Nun, als Blue sich dem Ende der Brücke nähert, kehren diese Gefühle zurück, und er wünscht, sein Vater könnte da sein, mit ihm über den Fluss gehen und ihm Geschichten erzählen. Dann wird ihm plötzlich bewusst, was in seinem Geist vorgeht, er fragt sich, warum er so sentimental geworden ist, warum ihm alle diese Erinnerungen kommen, nachdem sie ihm so viele Jahre niemals eingefallen sind. Es gehört alles dazu, denkt er, verlegen, weil er so ist. So geht es einem, wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann.
    Am Ende der Brücke weiß er, dass er in Bezug auf Black unrecht hatte. Es gibt heute keine Selbstmorde, keine Stürze von Brücken, keine Sprünge ins Unbekannte. Denn da geht sein Mann so munter und unbekümmert, wie man nur sein kann, die Treppe des Fußgängerstegs hinunter und die Straße entlang, die einen Bogen um das Rathaus macht, dann setzt er seinen Weg durch die Centre Street nach Norden fort, am Gericht und anderen städtischen Gebäuden vorbei, und ohne seinen Schritt zu verlangsamen, läuft er durch Chinatown und noch weiter. Dieser Streifzug dauert mehrere Stunden, und nie hat Blue das Gefühl, dass Black irgendein Ziel verfolgt. Er scheint vielmehr seine Lungen auszulüften, zu gehen um des reinen Vergnügens willen, und als die Wanderung kein Ende nimmt, gesteht sich Blue zum ersten Mal ein, dass er eine gewisse Zuneigung zu Black entwickelt.
    Einmal betritt Black

Weitere Kostenlose Bücher