Die Nichte der Marquise - Die Nichte der Marquise
defilierten die Adeligen je nach dem Ausmaß der gewährten Gunst in das Schlafgemach des Herrschers und halfen ihm bei der Morgentoilette. Sie reichten ihm Hemd, Hose und Wams, waren ihm beim Anbringen des Degens behilflich und banden seine Strümpfe fest.
Auch der selige Marquis de Solange hatte mehrfach das Privileg genossen, beim lever anwesend zu sein, erzählte ihr die Marquise, als sie sich bereit machten.
Aufgeregt und durch das untätige Herumsitzen begierig darauf, etwas Neues zu sehen, ließ sich Marie von Florence anziehen und frisieren. Das Kleid, das für diesen Zweck gewählt wurde, war aus pastellgrünem Atlas gefertigt, weit ausgeschnitten, aber ohne Stickerei und sonstigen Zierrat. Außerdem trug sie keinen Schmuck, nur eine lange, gedrehte Locke fiel aus ihrem hochgesteckten Haar und wurde keck auf ihrem Dekollete drapiert.
Die Marquise begutachtete sie mit strengen Augen und drückte ihr dann einen ihrer bemalten Elfenbeinfächer in die Hand.
»Sehr hübsch, Marie, frisch wie ein Frühlingsmorgen«, stellte sie fest. »Und nun, lass uns zum lever gehen, meine geliebte Nichte.«
Das war leichter gesagt, als getan. Die neuen Seidenpantoffeln - ein einziges Paar hatte die Marquise für sie anfertigen lassen - hatten derart hohe Absätze, dass sie jeden Schritt ausbalancieren musste.
Damit nicht genug, waren zahlreiche Treppen zu passieren, bei denen sie den schweren Rock mit beiden Händen anheben musste, um nicht über den Saum zu stolpern und sich den Hals zu brechen, ehe sie auch nur einen Blick auf den König und sein Gefolge geworfen hatte.
Auf den Gängen kamen ihnen exquisit gekleidete Höflinge entgegen. Die Marquise nickte ihnen leutselig zu oder tauschte einige nichtssagende Floskeln aus. Marie stand daneben und fühlte sich überflüssig.
»Warum stellt Ihr mich nicht vor?«, fragte sie schließlich verstimmt.
»Niemand, dem wir bisher begegnet sind, ist es wert, auch nur einen Blick auf dich zu werfen, geschweige denn, deinen Namen zu kennen«, entgegnete die Marquise und lächelte einem Mann zu, dessen Bauch geradezu groteske Ausmaße besaß.
Schließlich kamen sie in der Spiegelgalerie an, in der sich bereits jede Menge Menschen versammelt hatten. Marie reckte den Hals, um über die Köpfe der Anwesenden spähen zu können. Sie dachte, dass sie jetzt die Gemächer des Königs betreten würden, aber stattdessen ging die Marquise zu einem etwas abseits stehenden Mann, der ihnen erwartungsvoll entgegenblickte.
»Comte Lalande, ich freue mich, Euch wiederzusehen. Verlief der Aufenthalt in Rom zu Eurer Zufriedenheit?« Sie reichte ihm die Hand, die er galant an die Lippen hob.
»Passablement, Madame de Solange. Nichts kann sich mit Versailles messen.« Er richtete seinen Blick auf Marie, und die Marquise ergriff die Gelegenheit beim Schopf.
»Meine Nichte Marie. Das arme Kind verlor vor zwei Monaten Mutter und Vater und befindet sich jetzt unter meiner Obhut.«
»Welche Tragik«, murmelte der Mann, »so jung, so schön und ganz alleine.«
Marie lächelte und neigte leicht den Kopf. »Ich bin meiner Tante sehr zu Dank verpflichtet, Monsieur le Comte. Ohne sie wüsste ich nicht, was aus mir werden sollte.« Während sie sprach, ließ sie ihre Augen über den aus kostbarem Brokat gefertigten justaucorps und die mit Perlen bestickte Halsbinde zu seinem Gesicht wandern.
Da die Marquise sie ihm vorgestellt hatte, musste er ein passender Bewerber sein. Marie versuchte zu ignorieren, dass seine vornehme Erscheinung nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass er die Fünfzig bereits überschritten hatte und damit älter war als ihr Vater. Ihr Blick fiel auf die faltigen Hände mit den kräftigen Fingern, an denen zahlreiche Ringe funkelten. Bei dem Gedanken, dass er sie damit berühren würde, erfasste sie heftige Übelkeit.
Die Marquise entfernte sich einige Schritte von ihr, und der Comte folgte ihr. Marie nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen. Die Freude, die sie über ihre neuen Kleider empfunden hatte, verblasste angesichts der prunkvollen Roben, die die Frauen hier trugen. Spitze, Stickereien, Samt und Seide in verschwenderischem Ausmaß, egal, wohin sie blickte. Und die Männer standen ihnen um nichts nach. Die gerade in Mode befindlichen weiten, knielangen Hosen a la Rhingrave waren mit Bändern und Borten geschmückt; die Strümpfe mit Goldstickerei verziert und die roten Absätze an den Schuhen - ein Zeichen, dass der Träger zum Adel gehörte - waren ebenso hoch wie ihre
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